"Cool.
Das ist der Dritte, begraben wir ihn." Die Küchenuhr zeigte
acht Uhr. Das Licht der Sonne brach sich an Gläsern, wanderte über
den blutverschmierten Leib zu einem leblosen Gesicht. Der Mann war
nackt. Jens zog dem Toten das Messer aus der Brust und warf es ins
Spülbecken.
Mutter
Ines flitzte in der Küche wie ein Weberschiffchen hin und her und
fuhr sich mit den Händen durch die Haare.
"Die
Tür war abgeschlossen. Es wurde nicht eingebrochen. Ich kann doch
nicht zur Polizei laufen. Die würden doch denken, ich hätte ihn und
die beiden anderen umgebracht. Wenn doch nur dein Vater hier wäre."
Jens Blick wanderte von seiner Mutter zur Leiche, dann zur Mutter
zurück. Vater war weg gelaufen und sie war nicht mehr sie selbst.
Warum vergaß sie den nicht?
"Hilf
mir graben." Ines packte den Toten an den Füßen und schleifte
ihn durch die hintere Tür in den Garten.
Sie
gruben, hoben die Erde aus. Jens, ein stämmiger Junge von fünfzehn
Jahren, ließ den Toten in die Grube fallen und schaufelte die Erde
zurück. Ines, eine zierliche Frau, in Wolljacke, Jeans, verquollene
Augen in schmalem Gesicht, konnte nicht an sich halten.
"Wie
kommen diese Toten denn in unsere Küche? Warum bin ich nicht zur
Polizei gegangen? Wir können doch nicht jeden Morgen ein neues Loch
graben. Der ganze Rasen wird verschandelt. Und so groß ist er doch
nun auch wieder nicht."
Die
Leichen hatten zwischen Kühlschrank und Herd gelegen, mit einem
Messer in der Brust, eines mit geschnitzten Figuren, die Polypen
glichen. Tentakeln, die sich um den Griff wanden.
Jens
ließ die Schaufel fallen und pustete die Haare aus der Stirn. "Ich
muss zur Schule." Er zog das Fahrrad aus dem Schuppen und schob
es zur Gartenpforte.
"Hast
Du Dein Schulbrot eingepackt? Und sag keinem etwas, hörst du?"
Jens
war froh, dass seine Mutter ins Büro musste. Ohne ihn, dem Mann im
Haus, allein mit den drei Toten im Garten wäre sie doch
durchgedreht.
Am
Abend, als sie ihre Suppe aßen, brach es aus Ines hervor. "Wenn
nächsten Morgen wieder einer auftaucht, werde ich verrückt."
"Finden
wir heraus, wo sie herkommen. Heute Nacht halte ich Wache." Jens
holte seinen Schlafsack.
"Bist
du nicht zu jung?", fragte Ines. "Du solltest zu Bett
gehen, ich bleibe hier." Jens hörte nicht auf sie. Er saß so
am Tisch, dass er die Lücke zwischen Kühlschrank und Herd einsehen
konnte. Sie spielten ‘Mensch ärgere dich nicht’. Würfel
rollten, Figuren rückten vor und Ines fielen die Augen zu. Jens
presste den Rücken gegen die Stuhllehne, als vor ihm ein Lichtpunkt
auftauchte, der zu einem Kreis wuchs, flirrend, hypnotisch zwischen
Kühlschrank und Herd tanzte. Jens erstarrte wie ein Kaninchen vor
Scheinwerfern.. Er sah einen Kopf, dann fiel einr Mann in die Küche.
Hager, mit leblosem Blick in bleicher Nacktheit. "Mutti!",
rief Jens und rüttelte an ihr. Bevor sie reagieren konnte, sprang er
auf, hechtete in die Öffnung. Der Boden war hart und konkav, die
Wände gewölbt. Er lag in einer Kugel. Wie durch Watte hörte er das
Rufen seiner Mutter, das Rauschen des Blutes in seinen Ohren, dann
ein dumpfes Geräusch, Stöhnen. Die Beine des Toten verschwanden aus
seinem Gesichtsfeld, während sich der Ausschnitt der Küche
auflöste.
"Jens?"
Seine Mutter umarmte ihn weinend. "Ich konnte dich doch nicht
allein lassen. Wo sind wir?" Aggregate summten, raunten,
wisperten.
"Weiß
nicht." Über ihnen sickerte gelbrötlich flackerndes Licht aus
einem Loch hervor. Jens streckte seine Arme nach dem Rand aus, zog
sich daran hoch und sah hinaus. Zu beiden Seiten standen mannshohe
Statuen. Fackeln in ihren Händen beleuchteten Köpfe mit
Fischmäulern, hervorstehenden Augen. Stachelkämme liefen von der
Stirn über Schädel, über Nacken, über Rücken. Das Licht spielte
auf grob behauenen Felswänden. Der Saal war etwa zehn Schritte lang,
zehn Schritte breit und so hoch, dass ein Mensch darin aufrecht
stehen konnte. In der rückwärtigen Felswand klaffte eine mannshohe
Lücke. Jens sprang auf einen quaderförmigen blutbefleckten Felsen.
Dann drehte er um und streckte die Arme nach seiner Mutter aus.
"Um
Himmelswillen!", rief sie. " Was ist das? Ein Altar?"
Sie
hasteten durch den Saal und blickten noch einmal zurück.
Über
dem Altar kauerte ein Riesenkrake aus Stein, geschliffen, bemalt. Ein
Götze, dessen Schlund sie ausgespuckt hatte. Tellergroße Augen
starrten auf die beiden Menschen. So schien es. Tentakeln wanden sich
um Säulen zu beiden Seiten des blutigen Felsklotzes, hielten in
ihren Saugnäpfen Instrumente, die mit ihren Spitzen, Zacken an
nichts erinnerten, was Jens bisher gesehen hatte. Angst trieb sie
weiter und sie rannten in den Gang am Ende des Raumes. Es war so
dunkel, dass Jens zurück lief und den Statuen die Fackeln aus den
Händen riss.
"Jens",
klagte seine Mutter. "Wo wird das noch hin führen? Wieso ist es
so heiß hier? Worauf haben wir uns da bloß eingelassen? Und diese
Figuren mit den scheußlichen Köpfen, hast du die gesehen?"
Der
Gang war so eng, dass sie hinter einander gehen mussten. Er krümmte
sich nach links. Jens sah, dass er nach oben führte. "Ich
glaube, wir sind in einem Berg."
"Wie
lange noch?", jammerte Ines. "Wenn dein Vater doch nur hier
wäre. Der hätte Rat gewusst. Was soll ich denn meinem Chef
erzählen, warum ich nicht ins Büro gekommen bin? Und dann hab ich
mich auch zur Dauerwelle angemeldet. Und jetzt ist auch noch meine
Uhr stehen geblieben. Es ist doch Nacht, oder? Wie spät ist es denn
überhaupt?"
Woher
soll ich das wissen, dachte Jens und schritt zügig aus. Er besaß
keine Uhr. Es war heiß, doch die Luft war atembar, sie hatten Licht.
Was wollten sie noch mehr?
"Wir
gehen bis ans Ende des Ganges und dann sehen wir weiter."
Nach
einigen Stunden konnten sie sich nicht mehr auf den Beinen halten und
fielen erschöpft zu Boden.
Als
sie erwachten, waren die Fackeln erloschen.
"Gehen
wir doch zurück."
Jens
schüttelte den Kopf. "Ich mache weiter."
"Ich
kann dich doch nicht allein lassen." Ines blieb stehen und fing
an zu weinen. Jens machte sich auf den Weg. Seine Schritte hallten
durch den Gang. Das unendliche Band des Weges stumpfte ab. Er bewegte
sich, ohne einen Gedanken an seine Mutter zu verlieren, wie ein
Automat in der Dunkelheit. Nur selten stieß er an eine Wand. Es
mussten Stunden vergangen sein. Ein Geruch von Fäulnis durchzog die
Luft, als er ins Freie trat. Auf der Kuppe des Berges umfasste ihn
ein Windhauch. Jens hatte das Staunen verlernt. Das Plateau, auf dem
er stand war nicht unwirklicher als das, was er zuvor erlebt hatte.
Sterne funkelten in kühler Nacht. Zwei Monde warfen ihr silbriges
Netz über schroffe Bergketten. Steinerne Figuren standen am Rande
der Kuppe. Fackeln in ihren Händen warfen gespenstisch flackerndes
Licht über ein mit Skeletten übersätes Areal. Schädel von
Fischköpfen, von Menschen, Schwerter und Äxte sagten Jens, hier
hatte ein entsetzlicher Kampf stattgefunden. Knochen zerbrachen unter
seinen Stiefeln, als Jens den Platz abschritt. Der hatte einen
Durchmesser von gut zweihundert Schritten. Jens sah den Abhang hinab
und entdeckte Licht, das sich um den Berg bewegte.
Zwischen
zwei Skulpturen führte ein Weg in einer Spirale den Berg hinab. Jens
folgte ihm. Er hielt an, sah nach unten und beobachtete eine
Menschengruppe, die den Weg hoch kam. Menschen? Stachelkämme
blitzten unter dem Schein der Fackeln. Vier Fischmenschen trugen
einen Balken, an den ein Mensch gebunden war. Ein neues Opfer, dachte
Jens. Seine Knie gaben nach und er lehnte an der Wand. Er musste
umkehren. Er ging den Weg, den er gekommen war. Vor flackerndem Licht
sah er die dunkle Silhouette seiner Mutter, die sich wie ein Kreisel
drehte. Es schien, als wolle sie sich dem Anblick der Knochen und
Gerippe entziehen. Jens rannte auf sie zu, ergriff ihre Schultern,
als die Gruppe der Fischmenschen mit dem Opfer zwischen den Statuen
sichtbar wurde.
"Ich
bin es, Jens." Ines stand wie festgefroren auf dem Platz. Ihr
Mund bewegte sich, ohne etwas zu sagen.
"Wir
müssen zurück." In einer Hand die Fackel zog er mit der
anderen seine Mutter in den Berg, durch den Gang, getrieben von
klickenden und grunzenden Lauten. Lang gezogenes menschliches Klagen
brach sich an den Wänden. Stumm folgte Ines ihrem Sohn. Sie schien
am Ende ihrer Kräfte, doch sie hielt durch. Jens war so stolz auf
sie. Sie machten keine Pause, fanden keine Zeit zum Schlafen und
torkelten unter dem Schein der Fackel in den Opferraum. Jens gab der
Statue die Fackel zurück, dann hob er seine Mutter auf den Altar,
sprang hinterher und schob Ines in den Schlund des Kraken. Sie saßen
in der Kugel unter flackerndem Licht, das über ihnen aus der Öffnung
kam.
Schleifende
Schritte, die fremdartigen Laute, der Schrei eines Menschen. Jens
verstand die Worte nicht. Er ahnte, was sie ausdrückten. Sie
bereiteten das Opfer vor. Jens zog sich am Loch empor und sah hinaus.
Hände drückten einen Mann auf den Altar. Jens sah Schwimmhäute
zwischen den Fingern. Hervorstehende Augen stierten unter rötlich
flackerndem Licht zu einem Messer empor, Kiemen hoben, senkten sich
und das Messer sauste hernieder. Jens ließ sich neben seine Mutter
fallen. Über ihnen erschien der Kopf des Toten, dann sein Rumpf.
Jens zog ihm das Messer aus der Brust. Er sah einen Lichtpunkt, dann
den flirrenden Kreis.
"Die
Küche!" Jens schob seine Mutter durch das Portal. Der Tote
rutschte ihr nach. Jens nahm das Messer zwischen die Zähne, stemmte
seinen Körper durch das Loch über ihm und sprang auf den blutigen
Altar.
Die
Fischmenschen hatten ihm den Rücken zugedreht und verließen den
Opferraum. Mit einem Satz sprang Jens auf den Rücken des letzten und
setzte ihm das Messer an den Hals.
Als
Jens in den Schlund der Krake getaucht war, sah er noch einmal
hinaus. Sie standen mit rotgefärbten Stachelkämmen vor dem Rumpf,
deuteten auf die Öffnung, kamen auf sie zu, doch dann drehten sie um
und verschwanden in dem Gang. Jens sah, wie das flirrende Tor sich zu
zog, wie Ines mit weit aufgerissenen Augen auf den Toten starrte, der
neben ihr lag, wie sie schluchzte: "Jetzt liegt da wieder einer.
Was mach ich denn bloß mit dem!" Für Jens war es zu spät, die
Öffnung des Portals war zu klein für ihn. Jens zwängte den
Fischkopf in die Küche und rief: "Jetzt kannst du die Polizei
anrufen. Ich warte auf das nächste Opfer!" Das Portal zu seiner
Welt schrumpfte zu einem Punkt, dann war es nicht mehr. Jens legte
sich auf den Boden und wartete, während die Maschinen flüsterten.