Nun wurden sie entdeckt. Ich erhielt die Mitteilung auf Handy und Tablet. Natürlich habe ich schon lange vorher eine Geschichte darüber geschrieben. Ich bin ja nicht von gestern, lol.
Wellenjäger
Freitag Abends im Blind Horse Saloon von
Livingston und das Bier fließt in Strömen, Musik und Gebrüll martern die
Trommelfelle, Tänzer schwingen ihre Beine, Billardkugeln klacken, Würfel
rollen, Bardamen wieseln.
“Jack, komm! Sie spielen den Watermelon
Crawl!”
Jack Benning hatte keine Lust, und er sah,
wie Wendy auf die Tanzfläche stürzte, sich lachend zwischen den jungen Frauen
und Männern einreihte. Nun, Wendy lachte oft. Er setzte sich an die Theke und
rückte seinen Cowboyhut tiefer ins Gesicht. Ein alter Mann brabbelte vor sich
hin.
Jack drehte sich zur Tanzfläche. An der
Außenseite ließen Two-Stepper ihre Damen wie Kreisel drehen.
“Irgendetwas ist da draußen.”
Jack wandte sich um. Der alte Mann starrte
auf eine leere Flasche. Jack sah, der Mann war wirklich alt, mindestens so alt
wie sein Vater. Bestimmt schon um die vierzig oder fünfzig. Sein kahler Kopf
hätte wie ein Totenschädel gewirkt, wenn der dichte, graue Bart nicht gewesen
wäre, der sich über die untere Hälfte seines Gesichtes ausbreitete. Und jetzt
hielt er Jack in seinem flackernden Blick.
“Nun, mein Junge, sie haben eine Menge Geld
ausgegeben, und wofür? – Nochn Bier, und eins für den jungen Mann hier! –
Wofür? Gravitationswellen jagen. Mit Laserstrahlen und Spiegeln, in zwei langen
Röhren. Und jede Vibration stört da nur, wie die von Lastwagen. Die fahren da
nun nicht mehr, und dennoch… irgendetwas ist da draußen.”
Der Alte schob Jack eine Flasche Bier zu.
“Prost, mein Junge.”
“Danke, Sir.”
Eine Weile blieben sie stumm. Der Tanz war zu
Ende. Jack sah, Wendy blieb auf der Tanzfläche und unterhielt sich mit ihren
Nachbarn. Sie strahlte über das ganze Gesicht. Sie kann gar nicht anders,
dachte Jack. Einmal Cheerleader, immer Cheerleader. Er sah sie im Geiste am
Rande des Footballfeldes herumhüpfen: Gimme an L! Gimme an I! Gimme a G! Gimme
an O! L I G O!
Jack hatte darüber im Livingston Enquirer
gelesen, über die Forschungsanlage,
Laserstrahlen, die durch zwei kilometerlange Zementröhren jagten.
“Sie arbeiten im LIGO, Sir? Wofür steht das
eigentlich?”
“Laser Interferometer Gravitational-Wave
Observatory.”
“Ah.” Jacks Blick wurde leer. Der Alte verzog
seinen Mund zu einem schiefen Grinsen und hob seine Flasche. “Ich heisse Al.”
“Angenehm, ich bin Jack. Im LIGO, was machen
Sie da?”
“Sagte ich doch. Wir jagen Wellen,
Gravitationswellen.”
“Wow.”
Janet Jacksons Bump in the Dark dröhnte durch
den Saal. Die Two-Stepper hatten die Tanzfläche verlassen, auf der die
Line-Dancer frenetisch herumhüpften. Wendys kurzer Rock, blonde Haare wehten,
Augen blitzten. Jack starrte wie hypnotisiert auf Wendys schlanke Beine in den
roten Cowboy Stiefeln, die in immer schnellerem Rhythmus über den Boden flogen.
Wenn Engel tanzen, wo waren ihre Flügel?
Wie von weitem hörte er die Stimme des alten
Mannes. “Vor fast fünfzehn Milliarden Jahren gab es eine inflationäre Expansion
des Universums, die es aussehen liess wie ein Faltenrock. Dabei entstanden die
ersten Gravitationswellen.”
Jack folgte Wendys Tanzfiguren wie in Trance.
“Wellen dieser Art öffnen uns ein neues
Fenster zum Universum. Sie entstehen auch, wenn Sterne explodieren, Schwarze
Löcher kollabieren und sich Neutronensterne bilden. Jedoch, wenn sie die Erde
erreichen, sind sie so schwach, dass sie sogar durch die Kräfte, die bei der
Anziehungskraft des Mondes entstehen, hundertmillionenfach überlagert werden.”
Jacks Blick löste sich von den Tanzenden.
“Kurz und gut. Unsere Laser haben noch keine
gemessen. Zuerst waren es Vibrationen von Lastwagen, welche die Strahlen
ablenkten. Wir haben sie daher aus dem Umkreis von einhundert Kilometern
verbannt.”
Der Mann schüttelte den Kopf und haute mit
der Faust auf den Tresen.
“Irgend Etwas ist da draußen. Unsere Laser
weichen immer noch von ihrer Bahn ab. Und es sind keine Gravitationswellen.”
Er schien erregt, fast ängstlich. Jack wurde
von seiner Unruhe erfasst. Von was redete der Mann? Hat wohl zu viel X-File
Folgen konsumiert. Jack lachte verkrampft.
“Al, vielleicht sollten Sie mit Dana Scully
und Fox Mulder darüber sprechen.”
Es kam ein langsamer Tanz. Wendy winkte und
Jack verschwand zwischen den Tanzenden. Als sie von der Tanzfläche gingen, war
Al nicht mehr da.
Einige Kilometer vom LIGO entfernt, liegt
malerisch mitten in einem herbstlich rotgefärbten Wald von Ahornbäumen die
Foxcroft Farm. Dort, wo Jack und Wendy ihre Pferde in Pension gegeben hatten,
standen sie vor den Ställen und legten die Sättel auf.
“Der Mann hat mich neugierig gemacht.” Jack
zog die Gurte an. “Irgendetwas hatte ihn geängstigt.”
Sie schwangen sich auf die Pferde und ritten
gemächlich den Waldweg entlang, brachten die Pferde in Trab und bald darauf ließ
Jack seinen Wallach in einen Galopp fallen. Der Wind pfiff ihm um die Ohren.
Wendy folgte ihm, dann jagten sie Seite an Seite über den Trail. Sie 7überquerten
eine Lichtung, dahinter lösten Kiefern und Fichten die Ahornbäume ab. Die
Zufahrtstrasse zum LIGO tauchte auf. Rechts zog sich ein hoher metallener Zaun
entlang.
“LIGO, Eigentum der National Science
Foundation – Betreten verboten. Wieso das? Ich sehe nur diese eine große
Röhre.”
“Von dem Gebäude vor uns geht noch eine
zweite ab,” rief Wendy und deutete nach vorn. Zur Röhre aus Zement, die neben
ihnen am Zaun entlang lief, verlor sich eine weitere zwischen den Kiefern.
Beide standen im rechten Winkel zueinander und hatten ihren Ursprung in einem
flachen Gebäude, das vor ihnen lag. Ein paar Wagen standen davor. Das Tor war
durch eine elektronische Schliessanlage gesichert.
“Nicht mal nen Pförtner haben sie hier, den
man ausfragen könnte,” meinte Jack missmutig. Unschlüssig verharrten sie vor
dem Tor.
Es wurde still um sie herum. Die Geräusche
der Natur, das Zwitschern der Vögel, das Zirpen der Grillen wichen bleiernem
Schweigen. Das Grau des Himmels wurde schwefelgelb, tauchte das Gebäude vor
ihnen in ein unwirkliches Licht. Gelbgrün, gleich Fackeln, leuchteten die
Tannen. Jack stockte der Atem.
“Jack! Die Pferde!”, rief Wendy. Wiehernd
bäumten sich die Tiere auf. Nur mit Mühe gelang es Wendy und Jack, sich im
Sattel zu halten. Sie hörten erregte Stimmen.
Zwei Männer rannten aus dem Gebäude. Einer
von ihnen eilte zum Tor, öffnete es, lief zu seinem Wagen, während der andere
den Motor seines Autos startete. Die Wagen rasten durch das Tor und waren in
wenigen Augenblicken verschwunden.
Jack sprang von seinem Pferd.
“Wendy, unsere Chance! Sie haben das Tor
offengelassen!”
Als er versuchte, die Zügel am Zaun zu
befestigen, riss sich sein Pferd los und stob davon. Wendys Pferd machte kehrt
und folgte ihm.
“Wendy!” Fluchend blickte Jack den Pferden
nach, sah, wie das Mädchen vergeblich versuchte, sein Pferd in eine langsamere
Gangart zu zwingen, dann waren sie nicht mehr zu sehen.
Schimpfend rannte Jack durch das Tor, durch
den Eingang in das Innere des Gebäudes. Am Ende des Korridors stand eine Tür
offen. Vorsichtig blickte er in den Saal. Vor einem der Monitore saß Al,
hämmerte wild auf einer Tastatur und redete vor sich hin.
“Zweitausend Meter. Es kommt immer näher.”
Jack trat heran und blickte ihm über die
Schulter.
“Was, Al? Was kommt immer näher?”
Al blickte überrascht hoch, dann starrte er
wieder auf den Bildschirm.
“Die Störung, von der ich dir erzählt habe.
Eintausend fünfhundert Meter. Irgendetwas kommt auf uns zu!”
“Was ist es?”
“Es könnte eine Strahlung sein. Unsere
Instrumente sind nicht in der Lage, sie zu analysieren. Doch eines ist sicher.”
Der Alte trommelte nervös mit den Fingern. “Sie ist nicht von dieser Welt! Sie
kommt immer schneller heran, und sieh hier!”, ächzte er. “Jetzt ist sie nur
noch einen Kilometer entfernt!”
Voller Panik sahen die beiden, wie der Zähler
rückwärts raste.
“Mach, was du willst. Ich verschwinde.” Al
sprang von seinem Sitz hoch und lief aus dem Raum. Jack rannte hinter ihm her
und sah, wie Al auf den Parkplatz hetzte und in seinen Wagen sprang.
Der fahlgelbe Himmel, die brennendgelben
Tannen, die Umgebung schien nicht real. Schwefelstinkende Schwaden waberten auf
dem Platz. Jack blickte auf die gekrümmte Gestalt im Inneren des Autos. Der
Wagen setzte sich nicht in Bewegung. Durch den Nebel sah Jack, dass Al aus dem
Wagen kletterte und hustend durch das Tor nach draußen lief.
Dort, wo eine der Röhren in den Wald hineinragte,
näherte sich eine dunkle, glasig dunstige und durchsichtige Wand. Voller
Schrecken sah Jack, wie die Barriere einen Ring um das Gebäude bildete, auf es
zu raste, wie die Landschaft sich hinter ihr auflöste und durch Formen ersetzt
wurde, die sich jeder Beschreibung entzogen. Formen, die Quadern, Würfeln,
Vielecken, konischen Gebilden ähnelten, schienen wie zusammen geschweißt und
bewegten sich durch eine gelblich grüne, von sich bewegenden, bläulichen Linien
unterbrochene Landschaft. Die Farben dieser Gebilde waren fremd. Nie hatte Jack
etwas derartiges gesehen. Gebannt starrte Jack auf das Schauspiel, als jemand seinen
Namen rief. Eine Gestalt taumelte durch den schwefligen Dunst auf ihn zu.
“Wendy!” schrie er und lief ihr entgegen, als
sich ihre Umrisse aus dem Nebel schälten. Ihre Stirn blutete, sie hatte eine
Platzwunde auf der Wange. Besorgt legte Jack seinen Arm um sie.
“Jack, was ist hier los? Was kommt dort auf
uns zu?” Wendy keuchte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf die Barriere,
deren Ausläufer wie Fühler nach vorn schnellten und sich wieder zurückzogen.
Sie hatten sich bis auf wenige hundert Meter dem Gebäude genähert. Wendy stiess
einen spitzen Schrei aus.
“Jack, sieh doch!” Verängstigt klammerte sich
Wendy an ihn, als sie auf Al deutete, der die Zufahrtsstraße entlang lief und
den Ausläufern vergeblich zu entkommen versuchte. War es Gas? Strahlung? Sie
züngelten, dehnten sich aus, dann legten sie sich über Al und zogen sich mit
ihm in die Barriere zurück. Sie sahen ihn nicht mehr.
“Wir kommen hier nicht raus!”, schrie Jack.
“Gehen wir in Deckung!” Jack ergriff Wendys Hand und rannte mit ihr in das
Gebäude zurück. Im Computersaal warf er einen flüchtigen Blick auf den Monitor.
Einhundert Meter, und die Zahl raste weiter rückwärts. Nervös folgte Jacks
Blick den Kabeln, die vom Computer wegführten. Sie mündeten in einer Wand. Dann
sah er die Luke, die mit einem Dreh Rad verschlossen war.
“Komm Wendy,” rief er und lief zur Wand
hinüber.
“Hilf mir, die Luke aufzubekommen.”
Gemeinsam drehten sie das Rad herum und öffneten
die metallene Absperrung. Es war der Zugang zu den beiden Röhren. Generatoren
brummten. Laserstrahlen jagten hindurch und verschwanden in der Dunkelheit.
“Wir kriechen durch die Röhre unter dem Laserstrahl
hindurch bis zu ihrem Ende. Vielleicht schaffen wir es. Wendy, mache es so wie
ich. Immer auf dem Bauch, sonst verschmorst du dir den Hintern.”
Ihr war das Lachen vergangen. Sie sah so
hilflos aus. Jack wollte sie in den Arm nehmen, doch dies war nicht der
richtige Moment. Sie kletterten in die Luke, warfen sich auf den Bauch und
robbten in eine der Röhren. Der Laserstrahl jagte über sie hinweg.
Langsam arbeiteten sie sich vor. Vorwärts!
Vorwärts! Jack verdrängte jeden anderen Gedanken. Unaufhaltsam krochen sie
voran. Wie lange waren sie schon in der Röhre? Wie viele Meter hatten sie
bereits zurückgelegt?
Ein lauter Knall hallte über sie hinweg.
Staub hüllte sie ein, als sie eine heftige Druckwelle vorwärts schleuderte. Wie
betäubt blieb Jack in der Röhre liegen, dann sah er es: der Laserstrahl war
erloschen.
Jack hatte das Zeitgefühl verloren. Auf Händen
und Knien bewegten sie sich weiter.
Es war Nacht, als sie die Luke am Ende der
Röhre verließen. Erschöpft ließen sie sich auf den Boden fallen. Heftiges
Schluchzen erschütterte Wendys Körper. Jack legte seinen Arm um sie und zog sie
näher an sich heran. Für eine Weile umklammerten sie sich, gaben sich
gegenseitig Halt. Dann drehten sie sich auf den Rücken. Zerschunden. Die Haut
brannte, jeder Muskel schmerzte. In heftigen Zügen sog Jack die Waldluft in die
Lunge. Er blickte empor, sah die dunklen Formen der Tannen, dann gewann
Müdigkeit die Oberhand.
Knattern von Hubschraubern, die mit
aufgeblendeten Scheinwerfern über sie hinwegflogen, riss sie aus dem Schlaf.
Wenig später stolperten und humpelten sie an der Röhre entlang.
Blaulicht von Polizeifahrzeugen,
Militärlastwagen, sie sahen sie von weitem, waren um das Areal gruppiert, auf
dem das Observatorium gestanden hatte, nunmehr verglaste und verbrannte Erde.
Monate vergingen, bevor Wendy ihr Lachen
wieder gefunden hatte und mit Jack und anderen den Watermelon Crawl tanzte.
Jack erwischte sich dabei, dass er von der Tanzfläche immer wieder auf die Bar
blickte, als ob Al jeden Augenblick dort auftauchen könnte.
Es war viel Getöse um Nichts gewesen. Niemand
wusste, wer oder was das LIGO plattgemacht hatte. Jack und Wendy hatten nichts
von ihrem Abenteuer erzählt. Wer hätte es ihnen geglaubt?
Wenn sie in die Richtung ritten, in der das
LIGO einst gestanden hatte, kamen sie nur bis zu einem bestimmten Punkt, dann
streikten die Pferde und weigerten sich weiterzulaufen. Jack und Wendy sahen
das Gitter, welches nunmehr nur noch eine leere kahle Fläche umschloss.
Ein Jahr darauf hörten sie Lärm aus jener
Richtung. Wie Käfer liefen gelbe Transportfahrzeuge und Erdbewegungsmaschinen über das Terrain.
Baukräne hoben sich vom Blau des Himmels ab.
“Wir kommen nicht dichter heran, die Pferde
streiken immer noch,” meinte Jack.
“Jack,” rief Wendy. “Da ist ein Schild am
Zaun.” Er zog den Feldstecher aus der Satteltasche.
Jack schluckte und schnappte nach Luft.
“Wendy, ich glaube, mir wird schlecht. Auf dem Schild steht: Hier baut die
National Science Foundation ein neues Laser Interferometer Gravitational-Wave
Observatory (LIGO).”
“Bloß weg hier!” , rief Wendy mit sich
überschlagender Stimme und riss das Pferd herum. Jack
folgte ihr; denn irgendetwas war da draussen.