Ohne
Heinrich und seine platten Sprüche war es verdammt langweilig. Udo
legte die Bild-Zeitung zur Seite und blickte auf den Schreibtisch
seines Kollegen. Aufgeräumt, eine Schreibunterlage, ein Becher mit
ein paar Stiften und ein Glas voll Bonbons. Der leere Stuhl dahinter.
Udo sah auf das Fenster, auf Schlieren prasselnden Regens. Seufzend
drehte er sich zum Bildschirm und hämmerte auf die Tastatur, bis ihn
das Klingeln des Telefons von seinem Bericht riss.
“Wie
bitte? Bin gleich bei Ihnen.”
Dr.
Schmidts Büro befand sich eine Etage höher.
“Udo,
wir haben einen Mord. Hamburg-Poppenbüttel, Schulbergredder 14.”
Schmidt rückte seine Brille zurecht. “Der Mann heißt Emil
Erdmann. Die von der Spurensicherung sind schon da.”
Eine
Frau weinte. Ein Mann lag im Flur. Zwei Männer stäubten mit weißen
Latexhandschuhen Pulver auf Treppengeländer und Türgriff. Ein
Vierter lehnte an der Wand und sah ihnen zu.
“Doktor
Petersen, wie siehts aus?” Der Mann hob die Hand. Ein flüchtiges
Lächeln zuckte über sein Gesicht.
“Herr
Schmitz ohne Kommissar Schneider. Welch ungewohntes Bild.”
“Mein
Kollege ist auf Urlaub.”
“Nun”,
Petersen deutete auf das klaffende Loch in der Stirn des Mannes, “der
Schuss kam aus nächster Nähe, aus dem Treppenhaus. Der Mann ist
seit etwa neunzig Minuten tot.”
“Frau
Erdmann?” Die Frau blickte auf Udo und nickte.
“Schmitz,
von der Mordkommission. Kommen Sie”, Udo fasste sie am Arm und
geleitete sie vorsichtig vom Tatort. “Können wir uns irgendwo
hinsetzen?”
Die
Frau öffnete eine Tür und zeigte auf ein Sofa.
“Frau
Erdmann. Ich möchte Ihnen meine Anteilnahme aussprechen.” Die Frau
blickte auf den Boden. Udo zog ein Notizbuch hervor.
“Können
Sie mir erzählen, was passiert ist?”
“Wir
waren gerade dabei, uns die Tagesschau anzusehen, als es klingelte.
Ich weiß nur, dass mein Mann zur Tür ging und nicht mehr
wiederkam.”
“Haben
Sie denn keinen Schuss gehört?”
“Nein.”
“Hatte
er Feinde?”
“Nicht,
dass ich wüsste.”
“Irgendwelche
besonderen Hobbies?”
“Ja.
Seine elektrische Eisenbahn.”
“Laster?”
“Nein,
Eisenbahn.”
“Ich
meine, hatte er irgendwelche Laster?”
“Er
trank, und es war nicht schön. Bis vor einem Monat. Dann ging Emil
zu den Anonymen Alkoholikern, hörte eine Weile mit dem Trinken auf.”
“Wollen
Sie damit sagen, er hat nicht durchgehalten?”
“Ja.”
“Wer
war der Arbeitgeber Ihres Mannes?”
“Schiffsausrüster
Drusemann im Freihafen.”
Udo
machte sich einige Notizen, dann erhob er sich und griff in seine
Jackentasche.
“Frau
Erdmann. Hier haben Sie meine Karte. Rufen Sie mich bitte an, sollte
Ihnen noch etwas Sachdienliches einfallen.”
Der
Mord stand am nächsten Morgen in der Bild-Zeitung. Udo legte sie zur
Seite und dachte an den gestrigen Abend im Stadtpark, ging im Geiste
noch einmal die Züge der Schachpartie durch. Sie hatten nahe am
Stadtpark See mit den großen Holzfiguren gespielt, sein Freund Boris
und er. Jetzt fiel es ihm schwer, sich auf den Mord zu konzentrieren.
Er nahm Papier und Stift zur Hand, suchte nach Anhaltspunkten.
Der
Klingelknopf. Die Spurensicherung hatte einen unvollständigen
Fingerabdruck abgenommen.
Der
Ermordete gehörte den Anonymen Alkoholikern an. Und er, Udo, den
Anonymen Schachspielern. Gab es da Unterschiede? Nun, die einen
soffen, die anderen spielten Schach. Die einen zerstörten ihr
Gehirn, die anderen trainierten es.
Die
Frau hatte den Schuss nicht gehört. Die Waffe musste einen
Schalldämpfer gehabt haben.
Es
gab nicht viel her. Er brauchte mehr Informationen und Udo schickte
sich an, zu Erdmanns ehemaligem Arbeitgeber zu fahren, als ihm Dr.
Schmidt auf dem Korridor entgegen kam.
“Herr
Schmitz, schon auf dem Weg? Woher wissen Sie von dem neuen Mord?”
“Es
kam über mich”, Udo grinste. “Wo war es noch genau?”
“Saselbekstraße
15.”
Die
Saselbekstraße war nicht weit vom Schulbergredder entfernt, in dem
der erste Mord verübt worden war. Wie Erdmann, war auch dieser Mann,
er hieß Heinz Eckhoff, erschossen worden, als er die Wohnungstür
öffnete. Die Frau hatte nichts gehört und erzählte Udo, ihr Mann
sei Mitglied der Anonymen Alkoholiker gewesen.
“Ich
heiße Udo, ich bin Alkoholiker.” Mann, worauf habe ich mich da
eingelassen, dachte er. Ist ja fast so schlimm wie ne Damenwahl.
Verlegen blickte Udo in freundliche Gesichter.
“Erzähle
mehr von dir, Udo”, sagte ein Mann im Rollkragenpullover.
“Ich
arbeite in der Kostenrechnungs-Abteilung und hab mich in Marisa
verliebt, die aus der Buchhaltung. Sie ist verheiratet und will
nichts von mir wissen.” Udos Stimme stockte, “dann hab ich zu
trinken angefangen.”
“Woran
hast du gemerkt, dass du Alkoholiker bist?”, fragte eine Frau.
“Ich
kam nicht vom Trinken los, von diesem Tequila. Ich trinke ihn jeden
Abend. Ist ein Agavenschnaps, kommt aus Mexiko. Das soll keine
Entschuldigung sein. Es ist nur, er schmeckt einfach so gut. Es
dauerte nicht lange, und ich brachte im Büro die Zahlen
durcheinander. Grenzkosten lagen über Vollkosten. Das konnte doch
nicht sein, und da dachte ich, jetzt machst du schon zwei Sachen, die
nicht in Ordnung sind, und Trinken ist sicher die schlimmere.”
“Und
was war die andere Sache?”
“Ich
bin nach wie vor scharf auf Marisa.” Werde ich rot?, fragte Udo
sich und blickte auf die junge Frau in der Runde, auf den weißen
Pullover, auf ihr ausdrucksvolles Gesicht, die Stoppelfrisur,
begegnete dem intensiven Blick ihrer grünen Augen.
“Du
hast den ersten Schritt bereits getan”, meinte der Mann im
Rollkragenpullover. “Hast zugegeben, dass du dem Alkohol gegenüber
machtlos warst und dein Leben nicht mehr meistern konntest.”
“Jetzt
sind es nur noch elf weitere Schritte”, nuschelte sein Nachbar,
blinzelte ihm über dicke Tränensäcke zu.
“Richtig”,
sagte der Mann im Rollkragenpullover. “Der nächste Schritt wird
sein, zu erkennen, dass nur eine Macht, größer als wir selbst, uns
unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann.” Dann stellte er sich
selbst und die Gruppe vor.
Er
hieß Erich, Udos Nachbar zur Linken wurde Dieter genannt, die Frau
Lisa. Udo fiel es schwer Namen zu behalten. Eigenartig, wo er sich
doch Schachpartien so gut einprägen konnte.
Erich
ließ die Leute seiner Gruppe zu Worte kommen, fragte sie, was sie
die vergangene Woche unternommen hatten. Einer fütterte abends die
Enten im Stadtpark, ein anderer ging auf dem Elbdeich spazieren, und
während die Leute erzählten, sah Udo zu Boden und spielte im Geiste
die Schachpartie Zukertort gegen Blackburne nach, die vom Jahr 1883.
Es fiel ihm schwer sich zu konzentrieren. Als er aufblickte, sah er,
dass Lisa ihn beobachtete.
“Ich
komm immer noch nicht darüber hinweg, dass Emil und Heinz nicht mehr
bei uns sind. Als sie letzten Mittwoch nicht kamen, hatte ich ein
ungutes Gefühl. Und nun sind sie tot.” Udo drehte sich zu seinem
Nachbarn.
Dieter
griff nach einem Taschentuch und tupfte sich die Tränen aus den
Augen.
“Es
hat uns alle erschüttert. Doch wir müssen weitermachen”, meinte
Erich.
“Wie
hast du die letzte Woche verbracht?”
Als
sie nach der Sitzung den Raum verließen, ging Udo neben Dieter her.
Er hielt einen Zettel in der Hand, den mit den zwölf Schritten auf
dem Weg zur Abstinenz.
“Zwei
Mann aus dieser Gruppe tot? Auf einen Schlag? Wie ist das passiert?”
“Sie
wurden erschossen.” Dieter ging auf einen Golf zu und blieb stehen.
“Das
ist ja furchtbar. Hat man schon jemanden in Verdacht?”
“Weiß
ich nicht. Also dann, bis nächsten Mittwoch.” Dieter stieg in den
Wagen. Udo sah, wie das Fahrzeug in der Dunkelheit verschwand und
wunderte sich, dass der Mann mit diesen Tränensäcken die Strasse
erkennen konnte.
“Denkst
du noch immer an Marisa?” Udo drehte sich um.
“Nicht
im Augenblick.” Udo bemerkte den intensiven Ausdruck in Lisas
Gesicht.
“Nur,
wenn ich in meinen eigenen vier Wänden bin. Ich weiß nicht, ob ich
dann nicht wieder zur Flasche greife.”
“Vielleicht
solltest du darüber reden.” Lisas Parfüm legte sich auf seine
Sinne.
“Ausserhalb
der Gruppe, meine ich.” Sie wandte sich um.
“Komm.
Gehen wir doch in die Kneipe hier.”
Sie
bestellten Apfelsaft und blickten sich eine Weile schweigend an, dann
lächelte sie.
“Ich
weiß, wie man sich fühlt, wenn man unsterblich verliebt ist. Ich
habe sie kennengelernt, unerwiderte Liebe. Und danach war ich
verheiratet. Mit einem anderen. Das konnte nicht gut gehen.” Sie
griff nach seiner Hand. “Es hat mich Kraft gekostet, aber es geht
vorbei und ist kein Grund sich zu betrinken.”
“Leicht
gesagt”, seufzte Udo. “Ich brauchte jemanden, der mir dabei
hilft.” Lisa betrachtete ihn aufmerksam.
“Was
findest du an ihr?”
“Alles,
was ich mir von einer Frau erträumt habe. Ihre langen Beine, ihr
kurzer Rock, ihr dunkler Teint, die schwarzen, langen Haare. Die Art,
wie sie ihre Unterlagen auf meinen Schreibtisch legt und mich dabei
anlächelt. Ich wünschte, sie wäre die Unterlage und würde sie
doch das Lächeln beibehalten.”
Er
griff nach seinem Glas und versenkte seinen Blick darin.
“Kennst
du Santanas ‘Corazon Espinado’? Udo verzog sein Gesicht zu einer
traurigen Grimasse, sah zu Lisa hin. Sie schüttelte den Kopf.
“Ein
dorniges Herz. Marisa hat ein dorniges Herz. Nie hat sie mich erhört.
Sie müsste es wissen, obwohl, ich konnte mich ihr nicht erklären,
sie ist verheiratet, aber jeder meiner Gesten hätte sie ansehen
müssen, wie sehr ich sie liebe.”
Udo
schüttelte erstaunt den Kopf. Was war in ihn gefahren? Die Phantasie
ging mit ihm durch. War er nun ein guter Schauspieler? Lisa beugte
sich weiter vor, hielt noch immer seine Hand. Udo versuchte das Thema
zu wechseln.
“Dieter
hatte von zwei AA-Mitgliedern erzählt, die ermordet wurden. Was ist
da passiert?”
“Ich
weiß nur so viel. Die drei kannten sich. Sie haben jeden Abend in
der Kneipe am Poppenbütteler Markt zusammen gesessen und sich
betrunken. Vielleicht haben sie sich gestritten.”
Lisas
Hand krampfte sich um die seine. Sie blickte auf den Boden. Ein
nervöses Zucken flog über ihr Gesicht, dann sah sie ihm in die
Augen.
“Trinke
nie mit anderen zusammen, Udo. Du kommst sonst nie mehr vom Alkohol
los. Dieter hat den Sprung geschafft, doch die beiden anderen.”
Lisa bliebt einen Moment stumm, dann brach es aus ihr hervor: “Sie
ruinierten sich und hatten auch andere Leute auf dem Gewissen!”
Dann erhob sie sich und nahm ihre Jacke von der Garderobe. Udo
stutzte. Andere Leute? Wen meinte sie damit?
“Ich
muss los. Vielleicht können wir unser Gespräch nächsten Mittwoch
fortsetzen.”
“Würde
mich freuen”, erwiderte Udo, griff nach ihrem Glas, ohne dass sie
es sah und steckte es in die Hosentasche. Gemeinsam verließen sie
das Lokal. Auf der Straße drehte sich Lisa noch einmal nach ihm um,
blickte auf seine Hose.
“Oh,
war ich das?” und sie bekam wieder diesen intensiven Blick.
“Vielleicht sollten wir nächste Woche was dagegen tun.”
“Der
Abdruck auf dem Glas ist mit dem auf dem Klingelknopf identisch.”
Hans Müller von der Spurensicherung saß auf Schneiders Stuhl und
blickte Udo erwartungsvoll an.
“Dem
Teilabdruck auf dem Klingelknopf”, präzisierte Udo. “Das reicht
nicht für eine Festnahme.”
‘Poppenbüttler
Ecke’, was für ein phantasievoller Name, dachte Udo und trat in
die Kneipe. Ein paar Tische, Stühle, eine Theke mit Zapfhahn und
darauf Frikadellen im Glas. Udo wies sich aus und befragte den Wirt.
“Emil
Erdmann und Heinz Eckhoff wurden ermordet. Das wissen Sie, nicht
wahr?”
Der
Wirt nickte und schwieg.
“Die
waren Stammgäste, richtig?” Der Wirt nickte wieder.
“Wer
war noch mit ihnen zusammen?”
“Dieter
Stromberg, und dann noch eine Frau. Wenigstens am Anfang.”
“Wie
hieß sie?”
“Ich
glaube Lisa, eine Busfahrerin.” Der Wirt wischte über den Tresen.
“Nach einem dieser Abende hatte sie diesen entsetzlichen Unfall,
und danach habe ich auch die drei anderen eine Weile nicht mehr
gesehen.”
“Was
für einen Unfall?”
“Sie
hat mit ihrem Bus ein Mädchen auf dem Fahrrad überfahren. Stand
doch in der Zeitung.”
Udo
kramte in seinen Erinnerungen. “Das war diese Frau? Wurde von der
HVV entlassen, richtig?”
“Nee,
so weit ich weiß, in den Innendienst abgeschoben.”
“Und
die drei Männer, sie kamen wieder?”
“Nur
zwei von ihnen, die später ermordet wurden. Fingen wieder mit der
Sauferei an.”
“Hat
sich die Frau noch mal sehen lassen?”
“Einmal.
Es gab eine fürchterliche Szene. Sie hatte die beiden angeschrien,
sie seien an ihrem Unglück schuld gewesen und jetzt betränken sie
sich wieder. Doch die lachten nur.”
Am
Morgen darauf im Büro. Udo legte die Bild Zeitung auf den
Schreibtisch und seinen Apfel in die Schublade. Dann holte er einen
Zettel hervor und schrieb.
‘Eifersucht,
Neid, Gier, Rache’.
Er
dachte an Lisa. Was hätte sie veranlassen können, zwei Menschen
umzubringen? Neid, Gier und Eifersucht schloss er aus. Er strich die
Wörter durch. Rache. Was hatte sie gesagt? ‘Sie ruinierten sich
und hatten auch andere Leute auf dem Gewissen’, und der Wirt hatte
erzählt, sie habe Emil Erdmann und Heinz Eckhoff in der Kneipe
angeschrien, sie seien an ihrem Unglück Schuld. Wieso hatte sie
nicht erzählt, dass auch sie in der Poppenbüttler Ecke mit
getrunken hatte? War Lisa von den Männern zum Trinken animiert
worden und hatte später den Unfall verursacht? Meinte sie, sie sei
es, deren Leben die beiden ruiniert hätten? Danach hatten sie im
Gegensatz zu ihr und Dieter nicht mit dem Trinken aufgehört, und sie
hatte sie bestraft. Strafe, keine Rache.
Udo
blickte hoch, als Heinrich Schneider ins Büro kam und seine Jacke
weghängte.
“Hallo
Heinrich, wie war der Urlaub?”
“Ganz
nett”, meinte der Kollege und fläzte sich auf seinen Stuhl. “Was
gibt es Neues?”
“Zwei
erschossene Alkoholiker. Heinrich, du musst mir helfen.”
Erich,
der Mann im Rollkragenpullover lächelte sanft und fragte: “Udo,
wir sollten uns zuerst mit dir befassen. Wie ist es dir letzte Woche
ergangen?”
“Es
ist so schwer mit dem Trinken aufzuhören. Ich habe es versucht, ich
habe es so versucht, und zwei Tage lang ging es gut. Dann kam es
wieder über mich, und ich habe mir eine neue Flasche Tequila
gekauft.” Udo wich Lisas Blick aus.
“Und
die hast du leer getrunken, nicht wahr?”, fragte Erich und
schüttelte den Kopf.
“Ja.
Wie komme ich nur davon los?”
“Erinnerst
du dich noch an den zweiten Schritt?”
“Ja”,
erwiderte Udo gequält. “Den mit der höheren Macht, die größer
ist als wir selbst.”
“Richtig.
Vertraue dich dieser Macht an. Gott wird dir den richtigen Weg
zeigen.”
“Wieso”,
tat Udo verwundert”, hat er mich überhaupt den falschen Weg gehen
lassen?”
“Du
kennst doch das zehnte Gebot: Du sollst nicht begehren deines
Nächsten Weib.”
“Oh”,
meinte Udo. “Das ist es.”
Als
Udo in seinem Wagen Lisas Auto folgte, versuchte er cool zu bleiben.
Nicht einfach bei dieser Frau. Sie hatte etwas an sich, was ihn
erregte und zugleich erschreckte. Wie sie ihn ansah, mit ihrem
Basiliskenblick. Wie hat sie die drei Männer dahin gebracht zu den
Anonymen Alkoholikern zu gehen? Mit Erpressung? Mit Sex? Hatte sie
die beiden ermordet? Sie hatte ein Motiv. Der Teilabdruck auf dem
Klingelknopf stimmte mit dem auf dem Glas überein. Nur, er war nicht
komplett. Nie hätte ihm der Ermittlungsrichter einen
Hausdurchsuchungsbefehl ausgestellt.
Lisa
wohnte in Steilshoop, einer Neubausiedlung, die inzwischen sehr alt
aussah. Er griff nach seinem Aktenkoffer und ging mit Lisa in das
Gebäude. Das Treppenhaus war mit Graffitti verschmiert, die
Beleuchtung eine Funzel. Als Busfahrer konnte man keine großen
Ansprüche stellen, oder? Er sah das Namensschild an der Tür. Die
Frau hieß Lisa Krämer.
“Mach
es Dir auf der Couch gemütlich, ich hole etwas zu trinken.”
“Brauchst
du nicht, Lisa. Ich hab was mitgebracht.” Udo öffnete seinen
Aktenkoffer und zog eine Flasche Tequila hervor.
“Den
packst du schnell wieder weg!”, schrie Lisa erregt. “Keinen
Alkohol in meiner Wohnung!”
“Entschuldige”,
murmelte Udo und packte die Flasche wieder in seinen Koffer.
“Nun
sag mal, Udo”, Lisa setzte sich zu ihm aufs Sofa und legte einen
Arm um seine Schultern. “Warum hast du die Flasche mitgebracht?
Meinst du nicht, es gäbe einen anderen Weg, Marisa zu vergessen?”
Sie
zog ihn näher an sich, das Grün ihrer Augen sagte ihm ‘Freie
Fahrt’ und er schloss die Augen, während sein Mund sich auf ihren
presste, seine Zunge mit ihrer einen wilden Kampf begann.
“Komm”,
stöhnte sie. “Komm ins Schlafzimmer.” Heinrich, dachte Udo, als
er sah, dass die Tür des Kleiderschranks einen Spalt geöffnet war,
dann flogen Knöpfe, als sie sich die Kleidung vom Leib rissen. Udo
fand sich plötzlich nackt auf dem Bett.
“Ich
werde dich Marisa vergessen lassen!”, schrie Lisa und stürzte sich
auf ihn. Es war ein Rausch. Udo wusste nicht, wie ihm geschah, und es
kostete ihn Mühe, die Kontrolle über sich zurück zu gewinnen. Ihr
Mund glitt über seinen Körper, ließ Nervenenden seiner Haut
vibrieren, dann waren sie eins, eine dynamische Konstellation,
ständig zum Wechsel bereit. Lisa kniete über ihm, bis ihr die
Schenkel schmerzten, dann lag sie unter ihm und plötzlich fand er
sich hinter ihr. Grunzen, Stöhnen, spitze Schreie brachen sich an
den Wänden. Die Dimension der Zeit hatte sich aufgelöst. Udo wurde
sich ihr erst wieder bewußt, als Lisa erschöpft auf dem Bett lag
und sich nicht mehr rührte.
“Das
war was”, keuchte sie und starrte gegen die Zimmerdecke.
“Ich
weiß, und doch ist es so”, Udo verschwand im Wohnzimmer und
tauchte mit seinem Aktenkoffer wieder auf, “Marisa will mir immer
noch nicht aus dem Sinn.” Bevor er die Badezimmertür hinter sich
schloss, sah er, wie Lisa sich im Bett aufrichtete und ihm
nachblickte.
Udo
öffnete den Koffer, zog die Flasche Tequila hervor und schraubte den
Verschluss ab. Er hörte die Türklinke, verspürte einen Luftzug und
drehte sich um. Lisas Augen sprühten, die Brüste bebten, sie hatte
den Finger am Abzug, und Udo dachte, d a s ist schlimmer als ne
Damenwahl. Ein Knall, Udo wankte und blickte an sich hinab. Wo war
der Einschuss? Er sah keinen. Dann hörte er, wie die Pistole auf die
Fliesen fiel, vernahm Stöhnen. Lisa lehnte kraftlos an der Wand und
hielt sich die blutende Schulter. Mit aufgerissenen Augen blickte sie
auf Udo, dann sank sie zu Boden. Udo holte den Erste Hilfe-Kit aus
seinem Aktenkoffer. Lisa ließ es wortlos geschehen, dass er ihre
Wunde verband.
“Mann,
meine Kinnlade liegt noch immer auf dem Boden.” Schneider steckte
die Pistole in sein Holster zurück. “Udo, ich bin beeindruckt.”
Schwang nicht Neid in Schneiders Stimme mit? “Was für eine
Ausdauer! Wie machst du das?”
Udo
stieg in die Badewanne, drehte den Wasserhahn auf. “Die
Schachpartie Marshall gegen Capablanca, die von 1909.”
“Was
ist damit?” fragte Schneider und griff nach seinem Handy.
“Die
hab ich im Geiste nachgespielt.”
“Ohne
Orgasmus?”
“Doch
nicht im Einsatz”, Udo grinste und lenkte den kalten Strahl der
Dusche auf sich. “Da muss man einen kühlen Kopf behalten.”
“Frau
Krämer, bleiben Sie liegen. Ambulanz und Polizei sind auf dem Weg.
Ich bin Kommissar Schneider von der Mordkommission. Meinen Kollegen,
Inspektor Schmitz, haben Sie ja schon näher kennengelernt. Frau
Krämer, ich muss Sie festnehmen. Sie stehen unter Verdacht, Emil
Erdmann und Heinz Eckhoff getötet zu haben.”
Nach
dem ballistischen Test ihrer Waffe haben wir sie, dachte Udo, als er
im Schlafzimmer seine Kleidungstücke vom Boden auflas und sich
anzog. Er ging ins Bad zurück.
Lisa
warf ihm einen schmerzerfüllten Blick zu. “Ich werde dich nie
vergessen.” Tränen liefen ihre Wangen hinab. “Warum hast du
nicht wenigstens so getan, als hätte ich Marisa aus deinem
Gedächtnis vertrieben?”
Schneider
blickte Udo fragend an: “Wer zum Teufel ist Marisa?”, dann
öffnete er die Haustür, ließ die Polizisten und die Männer von
der Ambulanz in die Wohnung.