Die
Johann Sebastian Bach-Kirche mit ihren gotischen Fenstern und dem
spitzen Glockenturm, die ehrwürdige Universitätsklinik und die
schmucken Bürgerhäuser mit den überhängenden Dächern glichen dem
Bild auf einer Ansichtskarte. Sekundenlang waren sie unter
flackernden Blitzen zu erkennen.
Jan
Vilmer blickte aus dem Fenster seiner Dachkammer. Ein Blitz fuhr in
eine Linde, die mit anderen den Marktplatz säumte. Der Stamm
zersplitterte. Krone, Äste und Zweige fielen auf die Straße, gaben
die Sicht auf das Rathaus frei. Eine regennasse Fahne bewegte sich
trauernd im Wind. Auf Halbmast erinnerte sie an das Grubenunglück
vor einer Woche, das elf Menschen das Leben gekostet hatte.
Jan
fühlte sich ausgebrannt. Am Schreibtisch blätterte er lustlos im
Lehrbuch. Nervös justierte er den Lampenschirm. Der heulende Sturm,
der trommelnde Regen, die klappernden Fensterläden machten es ihm
unmöglich sich zu konzentrieren. Er dachte an den nächsten Morgen.
Seit einem Monat arbeitete er in der neurologischen Abteilung der
Klinik. Noch immer wusste er nicht, was er von seinem Chef halten
sollte... .
"Auf
welcher Seite ist das Hämatom?" Jan studierte das Röntgenbild
auf dem Leuchtschirm und ging zum OP-Tisch, drehte den
glattrasierten, mit Jod eingeriebenen Kopf des Patienten zur Seite.
Der Mann war narkotisiert, das EKG summte vertrauenerweckend, der
Anästhesist blickte gelassen auf den Blutdruckanzeiger.
Im
ersten Jahr durfte Jan assistieren, ab dem zweiten würde er
operieren dürfen, und was einen gekonnten Auftritt anging…, die
Tür schwang auf und Professor Stammheimer stand mit erhobenen Händen
im Saal. Schwestern eilten herbei, zogen ihm Kittel und Handschuhe
über.
"Was
haben wir denn hier?" Er blickte auf das Röntgenbild.
"Subdurales Hämatom? Vilmer, das müssten Sie im Schlaf
können." Jan antwortete nicht. Er war der Provokationen müde.
"Sagen
Sie nichts. Ich weiß, Vilmer. Machen Sie sich nichts draus. Sie
kommen noch früh genug dran. Wo wir gerade am subduralen Hämatom
arbeiten, Vilmer, wir unterhalten uns nächste Woche über die
anderen. Bereiten Sie sich darauf vor. - Skalpell!
Wie
schön leuchtet der Morgenstern voll Gnad und Wahrheit von dem
Herrn."
Stammheimers
Gesang ließ das Personal erschauern, dann fiel Doktor Frankengeist
mit ein.
"Die
süße Wurzel Jesse! Du Sohn David aus Jakobs Stamm, Mein König und
mein Bräutigam."
Vor
einer Woche hatte es begonnen, dass sie Stammheimer ‘die Singende
Säge’ oder ‘Doktor Bach’ nannten. Jan zog mit den anderen den
Kopf ein. Es nützte nichts. Bis auf die Patienten in Narkose, die
Glücklichen, waren sie Stammheimers und Frankengeists infernalischem
Gesang ausgeliefert. Ein rascher Schnitt, Stammheimer klappte die
Kopfhaut zurück, fixierte sie mit mehreren Kopfschwarten-Clips. Die
Schädelfraktur wurde sichtbar.
"Hast
mir mein Herz besessen, lieblich, freundlich, schön und herrlich,
groß und ehrlich, reich von Gaben, hoch und sehr prächtig erhaben.
- Irrigator
und Bohrer."
Eine
Schwester richtete den Irrigator auf die Fraktur. Wasser sprühte auf
die Stelle, wo sich der Bohrer in den Schädelknochen fraß. Blut
sickerte aus der Öffnung.
"Knochenwachs."
Widerlich, der Frankengeist, dachte Jan. Dessen Brille schob sich
nach oben, während er aus voller Kehle singend das Bohrloch mit
Knochenwachs abrieb.
"Skalpell!"
Stammheimer machte einen Schnitt im Bohrloch.
"Erfüllet,
ihr himmlischen göttlichen Flammen, die nach euch verlangende
gläubige Brust!
- Sauger!" Mit einem Ballonsauger pumpte er das angestaute Blut
ab.
"Die
Seelen empfinden die kräftigsten Triebe der brünstigsten Liebe.
- Drainage." Die Schwester reichte ihm einen dünnen Schlauch,
dessen Ende er in das Loch schob.
"Und
schmecken auf Erden die himmlische Lust.
- Nähzeug!" Stammheimer löste die Clips, ließ den Hautlappen
über den Drainageschlauch an seinen Platz fallen und nähte die
Wunde zu.
"War
das alles, Herrschaften?" Stammheimer sah zu Jan hinüber,
während ihm eine Schwester den Kittel auszog. "Vilmer, Visite
in einer Stunde."
"Guten
Morgen Herr Doktor." Der Pfleger Max grinste und verschwand in
der Geschlossenen Abteilung, wo Stammheimer seine Privatpraxis
unterhielt. Eine ältliche Krankenschwester ordnete die Instrumente
im Behandlungszimmer.
"Schwester
Hildegard, Neuzugänge?"
"Zwei
Patienten, Dr. Vilmer." Sie legte die Aufnahmeformulare auf
seinen Schreibtisch.
Doris
Klee, Alter: 54, unfähig, linke Hand zu bewegen. Das zweite Formular
stammte aus der Notaufnahme: Gerda Stromberg, Alter: 32, klagt über
Lähmung und Gefühlsstörung des rechten Armes, des rechten Beines
und über Taubheit im rechten Ohr.
Frau
Klee. Diagnose war Routine. Reflexe, Schmerzempfindlichkeit,
Bewegungen der Augen, Pupillen bei Lichteinfall: Normal.
"Neuropathie,
Schwester. Notieren Sie das." Jan schrieb der Frau ein paar
Übungen auf.
Bei
Gerda Stromberg diagnostizierte Jan Hysterie. Nichts deutete auf eine
organische Krankheit. Die Frau war verängstigt und ließ sich nicht
von dem Gedanken abbringen, dass ihr Mann, der mit zehn anderen in
den Kohlengruben umgekommen war, noch lebt.
"Frau
Stromberg. Ich fühle mit Ihnen. Sie machen eine schwere Zeit durch."
Jan sah, wie sich der ängstliche Ausdruck im Gesicht der jungen Frau
auflöste. Sie war auf psychiatrischeBehandlung angewiesen, doch
Stammheimer bevorzugte die Knochensäge. Jan betrachtete ihr streng
zurückgekämmtes, zu einem Knoten gebundenes dunkles Haar, den
zarten Teint, ihr süßes Gesicht und seufzte.
Zwei
Stunden später folgte Jan mit den anderen Ärzten Stammheimers
wehendem Kittel.
"Na,
wen haben wir denn da?" Stammheimer griff nach dem Krankenblatt.
Seine imposante Statur, das runde Gesicht strahlten Vertrauen aus,
als er vor Frau Stromberg stand, die ängstlich zu ihm hochblickte.
Er lächelte gütig. ‘EST’, wettete Jan mit sich selbst und
wartete.
"Wir
machen eine EST, danach geht es Ihnen wieder besser." EST,
Elektroschocktherapie. Die Neurochirurgie warf lange Schatten, unter
denen Psychotherapie nicht gedeihen konnte. Als Gerda Stromberg am
Vormittag ins Behandlungszimmer gebracht wurde, nahm Jan sich vor,
sie zu befragen.
"Frau
Stromberg, wie geht es Ihnen?" Die Frau lächelte resigniert.
"Können
Sie sich bewegen?" Vergeblich versuchte sie vom Rollstuhl
hochzukommen.
"Es
geht nicht."
"Wieso
meinen Sie, Ihr Mann lebt noch?"
"Manchmal
höre ich seine Stimme in meinem Kopf."
"Was
sagt sie?"
"Gerda,
wo bist du? Hilf mir, ich brauche dich! Hier sind nur Verrückte."
"Was
meint er damit, Frau Stromberg?" Die Frau schluckte.
"Ich
weiß es nicht. Mein Mann ist religiös. Er hat im Kirchenchor
gesungen und kennt sämtliche Bach-Kantaten. Wie wird er das
vermissen!"
"Frau
Stromberg, entspannen Sie sich." Seltsam. Jan dachte an
Stammheimers grauenhaften Gesang im OP. Wann hatte der damit
angefangen?
Schwester
Hildegard befestigte die beiden Elektroden an Frau Strombergs Stirn.
Jan injizierte Succinylcholin, um zu verhindern, dass die Konvulsion
auf ihren Körper übergriff, dann jagte er der Frau zwei Sekunden
lang Strom durch das Gehirn.
"Frau
Stromberg, wie fühlen Sie sich?"
Die
Frau blickte ihn verwirrt an.
"Was
ist? Wo bin ich?" Jan nahm vor ihr Platz.
"Ich
bin Doktor Vilmer, und Sie sind Gertrud Stromberg. Wir haben Sie
einer Elektroschocktherapie unterzogen. Wie fühlen Sie sich?"
Jan zog die Elektroden von ihrer Stirn.
"Ich
weiß nicht. Wieso bin ich hier?"
"Sie
hatten ein psychisches Problem und konnten sich nicht bewegen.
Versuchen Sie aufzustehen." Frau Stromberg stemmte sich hoch.
"Wunderbar,
mit dem Arm klappt es. Nun gehen Sie ein paar Schritte." Die
Frau versuchte einen Schritt nach vorn zu machen. Sie stieß einen
spitzen Schrei aus, als sie auf Jan fiel und ihn vom Sitz riss. Auf
dem Linoleum berührten sich ihre Gesichter. Was für schöne Augen!
Jan blickte auf die zart geschwungenen Lippen ihres Mundes. Ich
möchte sie küssen! Jan erschrak, als die Tür aufging. Er hob
seinen Kopf und blickte auf ein paar Schuhe.
"Vilmer,
was machen Sie denn da unten? Kommen Sie, Frau Stromberg."
Stammheimer zog die Frau hoch und setzte sie in den Rollstuhl.
"Hat
die EST gewirkt? Können Sie Ihre Beine bewegen?"
"Nein."
"Dann
machen wir noch eine." Stammheimer setzte die Elektroden auf die
Stirn der Frau, gab ihr einen Gummiknochen.
"Den
stecken Sie in ihren Mund, damit Sie sich nicht auf die Zunge
beißen." Stammheimer drehte die Spannung höher und legte den
Schalter um.
"Was
mir behagt, ist nur die muntre Jagd! Eh’ noch Aurora pranget, eh’
sie sich an den Himmel wagt…." Schwester
Hildegard blickte Stammheimer entgeistert an. Nie hatten sie ihn bei
einer EST singen hören.
"…
hat dieser Pfeil schon angenehme Beute erlanget." Konvulsionen
schüttelten die Frau. Ihre Hände umkrampften die Lehnen des
Rollstuhles. Das Succinylcholin wirkte nicht mehr. Stammheimer schob
den Schalter zurück.
"Versuchen
Sie Ihr rechtes Bein zu bewegen."
"Wo
ist mein rechtes Bein?" fragte Frau Stromberg verwirrt.
"Hier."
Stammheimer tippte mit dem Finger darauf. Es war nach wie vor
gelähmt.
"Jagen
ist die Lust der Götter."
Stammheimer erhöhte die Spannung. Ein neuer Stromstoss schoss durch
das Gehirn der Frau. Alle Neuronen feuerten zugleich. Schwester
Hildegard und Jan wirkten versteinert. Sie sahen, wie der Kopf der
Frau zuckte und unter den Entladungen hin und her geschleudert wurde.
Spasmen breiteten sich über ihren Körper aus. Die Augen traten aus
den Höhlen. Es roch nach verbranntem Fleisch.
"Professor,
hören Sie auf!" Jan riss den Stecker aus der Dose. Frau
Stromberg hing bewusstlos im Rollstuhl. Stammheimer nahm der Frau die
Elektroden ab. Mit gelangweiltem Blick betrachtete er die Anschlüsse,
die daran festgebackene Haut, dann ging er zur Tür und wandte sich
noch einmal um.
"Prüfen
Sie, ob es gewirkt hat. Mehr konnte ich nicht tun. Wenn das nicht
hilft, machen wir eine Lobotomie."
Während
die Schwester die Wunden auf der Stirn versorgte und der Patientin
ein Schmerzmittel spritzte, schlug diese die Augen auf.
"Wo
bin ich? Wer sind Sie?"
"Ich
bin Doktor Vilmer, und Sie sind Gertrud Stromberg. Wir haben Sie
einer Elektroschocktherapie unterzogen. Schwester Hildegard wird Sie
zu ihrem Bett zurückbringen. Wir sehen uns heute Abend."
Als
Jan zum Nachtdienst im Behandlungszimmer auftauchte, entlud sich
erneut ein Gewitter. Jan zog sein Lehrbuch aus der Aktentasche,
setzte sich an den Tisch und schlug das Kapitel über Intrazerebrale
Hämatome auf, als jemand an die Tür klopfte. Max, der Pfleger,
stand im Gang und trat aufgeregt von einem Bein aufs andere.
"Herr
Doktor, kommen Sie. Unsere Patienten sind vollkommen außer sich. Ich
kann es mir nicht erklären."
"Max,
was ist denn, sind sie wahnsinnig geworden?" Jan lachte über
seinen Scherz. Max öffnete die schwere Eisentür der Geschlossenen
Abteilung. Die beiden Männer stürmten durch den Aufenthaltsraum in
den Gang. Licht flackerte im Korridor. Pfleger standen vor den Türen.
"Sehen
Sie hier!" Max deutete auf das Fenster der ersten Tür. Männer
lagen mit aufgerissenen Mündern zuckend in ihren Betten. Max rannte
weiter. "Und hier!" rief er, deutete auf eine andere Zelle,
in der ein Mann ständig versuchte, die Wand hochzulaufen. Doktor
Frankengeist stürzte aus einem Zimmer.
"Stammheimer
spielt Orgel!" rief er ihnen zu. Gemeinsam liefen sie zum Ende
des Ganges. Das Licht erlosch. Gewitter. Jan riss die Tür zu
Stammheimers Praxis auf. Grauenhafte Orgelklänge, marternder Gesang.
"Mein
Kummer nimmet zu und raubt mir alle Ruh.
Mein
Jammerkrug ist ganz mit Tränen angefüllet,
und
diese Not wird nicht gestillet…". Dunkle
Umrisse eines Mannes hoben sich vom Feuer der Blitze ab. Schwankend
wie ein Betrunkener bearbeitete er mit weit ausgreifenden Bewegungen
eine Orgel.
"so
mich ganz unempfindlich macht. Der Sorgen Kummernacht
drückt
mein beklemmtes Herz darnieder, drum sing ich lauter Jammerlieder."
Das
Licht flammte auf.
"Der
Gesang macht die Patienten verrückt!", schrie Frankengeist über
das Orgelspiel hinweg.
"Das
sind sie doch schon!", rief Max zurück.
"Wieso
denn das?", fragte Jan konsterniert.
"Der
Gesang dringt durch das Kommunikationssystem!", brüllte
Frankengeist. "Er muss damit aufhören!" Frankengeist riss
Stammheimer von der Orgel weg. Mit einem lauten Geräusch fiel der
Deckel über die Tasten. Keuchend rangen die Männer miteinander.
Stammheimers Hände umschlossen Frankengeists Hals. Dessen Hand
tastete über das Instrument, griff nach einem Leuchter und ließ ihn
auf Stammheimers Schädel niedersausen. Polternd schlug dessen Körper
auf den Boden. Schwer atmend stand Frankengeist über ihm, beugte
sich hinab und tastete nach seiner Halsschlagader.
"Er
ist tot." Jans Blick fiel auf einen roten Schalter.
"Wofür
wird der benutzt?"
"Das
Kommunikationssystem." Sie schwiegen. Ihr Chef war tot, was
waren sie ohne ihn? So dachten sie wohl alle. Ein glucksendes
Geräusch durchdrang die Stille. Jans Blick richtete sich auf ein
Aquarium. Wo waren die Fische?
"Max,
sehen Sie!" Jan zeigte auf ein Gehirn in dem gläsernen Tank,
das in der bräunlich trüben Flüssigkeit kaum zu sehen war.
Luftblasen stiegen nach oben.
"Frankengeist,
wer ist das?"
"Heinrich
Stromberg, einer der Verunglückten."
"Wieso
ist er hier?"
"Stammheimer
versuchte ihn am Leben zu erhalten."
"Und?
Lebt er?"
"Sicher,
die Nährflüssigkeit war Stammheimers Erfindung. Er hat ein
Geheimnis daraus gemacht." Frankengeist tunkte einen Finger in
die Flüssigkeit, steckte ihn in den Mund. "Probieren Sie mal.
Schmeckt wie Maggi." Jan machte es ihm nach.
"Die
Größe einer Erfindung liegt in ihrer Einfachheit. Woran hat man
erkannt, dass Stromberg lebt?"
"Er
hat mit Stammheimer kommuniziert."
"Und
lässt ihn Bach-Kantaten singen," stellte Jan fest. Max näherte
sich dem Aquarium.
"Doktor
Frankengeist. Warum haben Sie das Gehirn nicht entsorgt? Professor
Stammheimer wäre normal und die Marter mit den Kantaten wäre uns
erspart geblieben. Nun, das hole ich jetzt nach." Er langte in
die Flüssigkeit.
"Vorsicht!"
schrie Frankengeist. Zu spät, Max bewegte sich nicht mehr.
"Stromberg
hat ihn gelähmt!" Sie starrten auf das Gehirn, jeder von ihnen
war mit Angst erfüllt.
"Wartet
einen Augenblick!"
Jan
flog aus dem Raum, rannte den Gang entlang, jagte durch den
Aufenthalt, den Korridor der Neurologie, ergriff einen Rollstuhl und
fuhr ihn in den Saal, in dem Gerda Stromberg lag.
"Frau
Stromberg," keuchte er. "Ich habe eine gute Nachricht für
Sie, Ihr Mann lebt! Kommen Sie", und er stellte den Rollstuhl
neben ihr Bett, "ich bringe Sie zu ihm." Die Frau war außer
sich vor Freude. In aller Hast schob Jan den Rollstuhl mit Frau
Stromberg Richtung Stammheimers Praxis und riss die Tür auf. Freudig
sprang die Frau aus dem Stuhl und ging einige Schritte. Sie konnte
gehen! Sie konnte gehen!
"Wo
ist mein Mann?" Mit glänzenden, tränenfeuchten Augen blickte
sie um sich. Stammheimer lag vor der Orgel auf dem Boden. Ein
glucksendes Geräusch durchbrach die Stille. Im Aquarium stiegen
Luftblasen empor. Frau Stromberg ging näher an den Behälter heran.
"Was
ist das?" Max schüttelte den Kopf, als wäre er aus einem bösen
Traum erwacht. Er deutete mit dem Kopf zum Aquarium.
"Ihr
Mann, Frau Stromberg!" Mit einem Schrei brach die Frau zusammen,
schlug mit dem Kopf gegen die Tischkante und stürzte zu Boden. Jan
beugte sich zu ihr hinab. Ihr Kopf war seltsam abgeknickt.
"Max,
helfen Sie mir!" schrie er. Während Jan und Max versuchten, die
Frau ins Leben zurückzuholen, erlosch das Licht. Heftig atmend
erhoben sie sich und gingen für einen Augenblick zum Fenster, sahen
den Blitzen zu, die ein leuchtendes Netz über die Wolken spannten.
"Nichts
zu machen," sagte Jan mehr zu sich selbst. Wie konnte er dem
Gehirn sein Beileid aussprechen? Sie beobachteten, dass es grün
phosphoreszierte und zu pulsieren begann.
"So
sieht er aus, wenn er wütend wird!," schrie Frankengeist.
"Bringen wir uns in Sicherheit!"
"Woran
sieht man, dass er aktiv wird?" fragte Jan.
"Wenn
seine Farbe von grün auf rot wechselt!"
"Kein
Gelb? Und seine Reichweite?"
"Die
halbe Stadt! Ich verschwinde." Frankengeist lief aus dem Raum.
Von weitem hörten sie ihn rufen: "Seht doch, was er mit
Stammheimer angestellt hat!" Jan schüttelte den Kopf.
"Ich
werde nicht davonrennen. Irgendjemand muss die Stellung halten! Max,
bringen wir die beiden Toten in den OP." Gemeinsam wuchteten sie
Frau Strombergs und Stammheimers Leichen auf den Rollstuhl. Während
Max sich auf den Weg machte, durchsuchte Jan die Teeküche und fand
eine Suppenkelle, zwei Bowleschüsseln vom letzten Betriebsausflug.
Er stellte sie auf einen Servierwagen und fuhr sie zum Aquarium, aus
dem er Nährflüssigkeit in die Schüsseln füllte. Schnellen
Schrittes schob Jan den Servierwagen in den OP.
"Was
machen wir jetzt?" Jan sah Max fragend an. Hier half kein
Lehrbuch. Er gab sich einen Ruck. Sie legten Frau Stromberg auf den
OP-Tisch. Jan setzte die handliche Kreissäge in Betrieb. Es war, als
mache ihm jemand Mut, und plötzlich schien alles so einfach.
"Ächzen
und erbärmlich weinen hilft der Sorgen Krankheit nicht."
Das Kreischen der Säge wurde durch den Gesang übertönt, als Max
kräftige Stimme mit einfiel.
"Aber
wer gen Himmel siehet und sich da um Trost bemühet."
Jan nahm die Schädelkalotte ab, dann sägte er an der hinteren
seitlichen zur vorderen seitlichen Fontanelle entlang.
"Dem
kann leicht ein Freudenlicht in der Trauerbrust erscheinen."
Jan brach mit einer Zange die restlichen Knochen weg. Das Gehirn lag
frei. Er trennte Stammhirn vom Rückenmark und legte es in eine der
Schüsseln.
"Max,
bringen Sie Frau Stromberg zu ihrem Mann. Die beiden haben erst mal
genug mit sich zu tun. Ich kümmere mich um Stammheimer."
Während
Max mit Frau Strombergs Gehirn verschwand, legte Jan Stammheimers
Denkapparat frei, deponierte ihn in der zweiten Schüssel. Als er mit
dem Servicewagen in Stammheimers Praxis ankam, hatte Strombergs
Gehirn wieder seine natürlichgraue Farbe angenommen. Das Gehirn
seiner Frau schien normal. Es war offensichtlich, in der Nähe ihres
Mannes fühlte es sich wohl. Es änderte sich auch nichts, als er
Stammheimers Hirn in die Lösung versenkte.
Einige
Monate waren verstrichen. Das Minenunglück war kein Gesprächsthema
mehr, der Tod Professor Stammheimers und Frau Strombergs nie eines
gewesen. Dafür hatten sie gesorgt: Stromberg, seine Frau und
Stammheimer. Stromberg und seine Frau hatten sich, und Jan wusste:
Stammheimer war und blieb Chef der Neurologie. Jan hatte seine
Lehrbücher in die Ecke gefeuert. Er brauchte sie nicht mehr.
Im
OP waren die Vorbereitungen in vollem Gange. Die Tür schwang auf,
Doktor Vilmer stand mit erhobenen Händen im Saal. Schwestern eilten
herbei, zogen ihm Kittel und Handschuhe über.
"Was
haben wir denn hier?" Er blickte auf das Röntgenbild.
"Posttraumatischer Hydrozephalus?" Sein Blick fiel auf den
neuen Assistenzarzt. "Beobachten und lernen Sie.
Skalpell!
- Wie
schön leuchtet der Morgenstern,"
und das OP-Team fiel freudig ein: "voll
Gnad und Wahrheit von dem Herrn."