Energie
von Klaus
Eylmann
Ihr Blick
ist kalt.
„Gerda.“
Der Mann sitzt auf einem Bürostuhl.
„Gerda,
sieh auf den Tisch. Ich will die Arbeit zu Ende bringen.“
Das Licht
ihrer Augen erhellt einen Teil des Schreibtisches. Der Mann beugt sich über
Zahlen.
Wie zu sich
selbst sagt er: “Gerda, gib mir Kraft. Du bekommst den Saft.”
Gerda
schüttelt sich und scheppert am ganzen Körper. Lacht sie?
Der Mann
heißt Herbert. Ein Nerd. “Den aus der Steckdose”, legt er nach. Gerda hört
nicht auf zu scheppern.
Herbert hat
Gerda aus silbrig glänzenden Ofenrohren zusammengesetzt. In das oberste sind
zwei Löcher gefräst, aus denen ihre Augen strahlen. Auf der anderen Seite des
Rohres befindet sich ein Knopf zum Ausschalten. Sie ist um die zwei Meter groß.
Wo nun ihr schepperndes Lachen herkommt, ist ihr Geheimnis. Wieso sie nicht in
sich zusammenfällt, ist seins.
Am Anfang
war ein Staubsauger. Herbert hat Gerda drum herumgebaut, mit Blech und
elektronischen Bauteilen vom Laden um die Ecke. Besitzt Gerda ein Bewusstsein,
einen eigenen Willen? Herbert ist sich nicht sicher. Und was will sie?
Staubsaugen. Herbert hat sie so programmiert. Auf vier Kinderwagenrädern rollt
sie dahin und reinigt Herberts Teppichboden. Vor Wochen noch stieß sie sich an
Couchtisch, Sofa, Stehlampe und Bücherschränken. Dann flackerte ihr Blick,
bekam einen Stich ins Rötliche und Herbert ahnte, dass Gerda ungehalten war.
Nun ist
Herberts Wohnzimmer leer, bis auf einen Schreibtisch, ein paar Bücher darauf,
eine Tischlampe, die er anschaltet, wenn Gerda durch sein Zimmer kurvt, ihren
Blick nach vorn richtet. Dann ein Drehstuhl, auf dem Herbert sitzt, Gerda beim
Staubsaugen zusieht oder sich in seine Berechnungen vertieft.
Anna, seine
Verlobte, die sich bei Verwandten im Ausland aufhält, wäre von diesem
Wohnzimmer nicht begeistert. Doch wer
ist wichtiger? Anna, die in der weiten Welt herumreist, oder Gerda, die jeden
Tag bei ihm Staub saugt? Denkt er an Anna, kommt ihm deren Mutter in den Sinn,
die angedroht hat, ihn zu besuchen.
Dann
passiert es: Eine Fliege krabbelt auf der Wand. Gerda rollt auf sie zu. Das
hellgelbe Licht ihrer Augen färbt sich rot. Zwei Strahlen schießen aus ihnen
hervor, treffen sich auf dem Insekt, das sich unter dem Lichtgewitter auflöst.
„Donnerwetter.“
Herbert lässt die Kinnlade fallen. Wie hat sie das gemacht? „Gerda, wirst du
mich schützen? Vor Regen, Eis, Insekten, Pfützen?“ Gerda dreht sich zu Herbert
und scheppert vor Lachen. Herbert steht auf und sieht aus dem Fenster. Es wird
dunkel. Laternen werfen mattes Licht auf Straße und Bürgersteige. Eine
Seitenstraße. Neben dem Friseurladen unter Herberts Wohnung befinden sich ein Gebrauchtwagenhändler, ein
Waschsalon und ein Textilgeschäft, in dessen Schaufenster unbekleidete Puppen
auf die Mode der neuen Saison warten. Die Geschäfte haben geschlossen.
„Zeit für
unseren Spaziergang“, ruft Herbert, öffnet Gerda die Wohnungstür. Sie nehmen
den Fahrstuhl. Dann rollt Gerda neben Herbert her. Trübes Licht der Augen
umspielt den Zylinder ihres Kopfes.
Es ist
nicht weit bis zum Hafen. Die Straße führt direkt daran vorbei. Silhouetten
einiger Kräne heben sich gegen das Licht des Mondes ab. Der Schall lärmender
Glocken hämmert von den Kirchen der Innenstadt herüber. Ein Betrunkener torkelt
auf Herbert und Gerda zu.
„Wat isn
dat? Mann mit Röhre! Hehe!“
„Das ist
Gerda!“, ruft Herbert ungehalten.
„Gerda!“,
kichert der Mann, rülpst und hebt einen Stein auf, um ihn auf Gerda zu
schleudern. Er trifft Herbert.
„Gerda, wir
gehen auf die andere Straßenseite.“ Gerdas Augen flackern, werden rot. Zwei
Blitze schießen aus ihnen, treffen den Mann, der ohne ein Wort zu sagen in sich
zusammenfällt. Übrig bleibt ein Haufen Staub. Das Licht Gerdas Augen irisiert
darüber hinweg, dann ist auch der Staub
verschwunden.
Herbert
schluckt. Sein Nacken wird steif, er bekommt eine Gänsehaut und sieht sich um.
Auf der Straße ist niemand. Und wenn es jemand durch das Fenster gesehen hat?
Herbert bildet sich ein, dass die Straßenbeleuchtung rötlicher scheint und
zwingt sich zur Ruhe. Er geht weiter. Gerda schüttelt sich und rollt hinter ihm
her. Lacht sie? Das Gelb ist in ihre Augen zurückgekehrt.
Herbert
dreht sich um. „Wir sollten nach Haus gehen.“ Auf dem Weg dorthin fragt er
sich: Wo ist der Staub? Es gibt doch dieses, wie heißt es noch? Dann fällt es
ihm ein: Energieerhaltungsgesetz. Energie verschwindet nicht, irgendwo steckt
sie. Energie, die menschliche Zellen zusammen hält. Energie, die vermeidet,
dass Menschen sich als glibberige Masse auf dem Boden ausbreiten. Energie, die
Motorik und die Informationsverarbeitung des Gehirns alimentiert.
Später
liegt Herbert im Bett. Es ist elf Uhr abends und Gerda geht ihrer Arbeit nach.
Schon längst hätte sie an der Steckdose hängen müssen. Ihr Energieüberschuss...
. Es ist das erste Mal, dass sich Herbert im Schlafzimmer eingeschlossen hat,
obwohl er weiß, dass Gerda es nie berollen würde. Er hat sie so programmiert.
Doch was ist, wenn Gerda auf den Geschmack gekommen ist, sich Energie auf die
Weise zuzuführen, wie sie es an diesem Abend gemacht hat? Herbert steigt aus
dem Bett, reißt die Tür zum Wohnzimmer auf und ruft hinein: „Morgen ist das
Wetter schön, kommt durch das Spazierengehn.“ Gerda lacht und Herbert zieht
sich zurück.
Ihm ist
nicht nach Einschlafen zumute. Gerdas Motor summt. Wie lange noch? Der
Ausschaltknopf! Herbert springt aus dem Bett, geht auf Zehenspitzen zur
Wohnzimmertür, öffnet sie vorsichtig und wartet, bis Gerda an ihm vorbeigerollt
ist. Der Knopf steckt auf der Rückseite der oberen Röhre. Herbert schleicht
sich an sie heran. Gerda stoppt. Der Motor verstummt und die Röhre dreht sich
so, dass Gerdas Augen Herbert anstarren. Gelb, kalt. Sie färben sich ins
Rötliche, beginnen zu flimmern. Schweißausbruch, Schauer, Herzrasen, steifer
Nacken, pure Angst. Herbert wird schwarz vor Augen. Als er wieder aufwacht,
merkt Herbert, dass er auf dem Wohnzimmerboden liegt und Gerda um ihn herum saugt.
Ein paar Minuten bleibt er auf dem Boden, dann rappelt er sich auf und geht ins
Schlafzimmer zurück. Dort wirft er sich aufs Bett und denkt nach. Schaltet er
den Strom aus, wird Gerda sich ihre Energie auf der Straße besorgen. Er muss
fort. Mit diesem Gedanken schläft er ein und wacht am nächsten Morgen wieder
auf. Er zieht sich an und macht sich reisefertig. Sein Handy klingelt.
„Herbert!“ Annas Mutter. Ihm steigen die
Haare zu Berg. „Ich bin gerade in der Gegend. Ich komme hoch zu dir. In fünf
Minuten bin ich da.“
Schafft er es, vorher wegzukommen? Notebook,
Autoschlüssel, Kreditkarten, Reisepass und -tasche mit Schlafanzug, Sandalen,
Unterwäsche, Waschzeug. Was vergessen?
Er hört
Summen. Gerda. Herbert hängt sich die Tasche um und stürzt zur Wohnungstür. Es
klingelt.
Annas
Mutter steht vor der Tür. Herbert rennt an ihr vorbei und ruft: „Geh ins
Wohnzimmer. Ich bin gleich wieder da!“
Er hört sie rufen. Dann sitzt er in seinem
Wagen und lenkt das Fahrzeug Richtung Autobahn. Er sieht einen McDonald. Dort
setzt er sich hin mit einem Becher Kaffee. Er fühlt sich frei. Annas Mutter war
eine energische Frau. Nun ist sie pure Energie. Herbert spürt kein Mitleid,
keine Genugtuung. Soll er sich beim Ortsamt abmelden? Besser nicht. Wenn Gerda
die ersten Polizisten und Feuerwehrleute verstrahlt hat, wird man denken, ihm
sei das Gleiche zugestoßen.
Er setzt
sich in seinen Wagen und fährt weiter.
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