Coversong Roads

venerdì, maggio 15, 2015

Chancengleichheit


Im „Spiegel“ vom 9.5. gab es einen Artikel über die Chancengleichheit. Als Fazit stand gleich am Anfang: „Bildung, Wer in Deutschland als Kind armer Eltern geboren wird, gleicht diesen Nachteil meist nicht mehr aus.“

Tja. Nach dem Krieg waren wir fast alle arm. Wenigstens der Mittelstand. Ich bin Jahrgang 39. Über die Wohnung, die wir hatten, kann ich nicht meckern. Sie lag in einem ruhigen Vorort Hamburgs, in Fuhlsbüttel, in einer Seitenstraße. Die Wohnung hatte Zentralheizung, Telefon, warmes Wasser. Mein Großvater war Vertreter von Schokolade, dann kaufte er einen Stand im Bahnhof Barmbeck. Der Bruder meiner Großmutter besaß einen Gemüseladen. Mein Vater war Bankangestellter, sprach neben Deutsch Spanisch, Englisch und Französich und hatte daher wohl das Glück in Frankreich zu kämpfen, während mein Onkel in Russland gefangen genommen wurde. Während des Krieges arbeiteten meine Tanten entweder in einer Munitionsfabrik oder waren Funkerinnen in einem Fliegerhorst. Ich erinnere mich daran, wie mich Soldaten in einen Jäger gesetzt hatten und mir das Flugzeug zeigten. Meine Mutter spielte Akkordeon und sang in Russland und meine Großmutter transportierte Geld von Bank zu Bank. Ich wurde herumgereicht. Entweder war ich in Fuhlsbüttel, wenn meine Mutter zu Hause war, in einem Hotel in Lübeck, evakuiert in Bayern, oder bei meiner Oma in Barmbek. Erlebte gerade noch, als das Haus ausgebombt wurde und wir irgendwo anders unterkommen mussten. Mal war es ein Hotel mit Künstlern und Artisten. Die bekannteste aus dem Hotel, mit der ich mich als Knirps unterhielt, war Lale Andersen, deren „Lili Marleen“ das Radio an der Front dudelte.

Was Musik anging, kann ich mich noch an die Lautsprecher am Timmendorfer Strand erinnern, über die Märsche und Sondermeldungen zum Krieg über den Sand wehten.
Was die Zeit nach dem Krieg anging, so war die Kindheit bombastisch. Eine meiner Tanten hatte sich mit einem Tommy verlobt, der, wie sie zu spät merkte, in England schon verheiratet war, lol. Immerhin konnte ich dann und wann in seinem Militärlaster mitfahren und ich bekam die erste elektrische Eisenbahn von ihm.

In unserer Straße waren wir eine Bande aus rund 10 Kindern, die ständig draußen spielten, weil die Eltern andere Sorgen hatten. Die Straße bestand aus großen Asphaltplatten, so dass wir ein Klasse Spielfeld hatten. Wir spielten einmal berühren. Ich glaube, mit einem Tennisball. Jede Seite durfte den Ball nur einmal mit dem Fuß berühren und versuchen, ihn über die gegnerische Linie zu bringen. Unsere Fähigkeit für Innovationen kannte keine Grenzen. Wir schlugen Löcher mit einem Nagel in Blechdosen, hängten sie an einen Draht und füllten sie mit Dachpappe und Blättern, die wir anzündeten. Dann schwenkten wir sie, während wir durch die Straßen liefen. Sie stanken so herrlich. Wir bauten Holzgewehre mit Brett, Nägeln, Wäscheklammern und Gummiband und schossen mit harten Erbsen. Später hatten wir Katapulte und Stahlzwillen, die wir in offene Fenster schossen, dann Bleistiftverlängerer, die wir als Blasrohre benutzten. Als Streich banden wir ein Seil an Griffe von zwei gegenüberliegende Wohnungstüren, die sich nach innen öffneten, klingelten und liefen weg. Wir kletterten Bäume und Laternenpfähle hoch, sammelten Granatsplitter zwischen Trümmern.
Das war die Zeit, als unsere Zehen aus abgeschnittenen Schuhspitzen ragten, weil die Schuhe uns nicht mehr passten. Ganz waren unsere Schuhe im Winter. Doch die hielten nicht lange, weil wir unsere Schlittschuhe daran schraubten. Mit der Zeit, wenn wir auf der Alster und Kanälen herumtobten, rissen die Hacken ab. Hudora hießen die Schlittschuhe, fiel mir gerade ein. Danach googelte ich. Wahnsinn, die gibt es immer noch. Die Firma existiert schon seit 1919.
Schwimmen haben wir uns selbst beigebracht. Wir liefen mit Badehose und umgebundener Schwimmweste von zu Haus los, trafen uns unterwegs, trabten zum Schwimmbad Ohlsdorf, bliesen die Schwimmwesten auf und sprangen ins tiefe Becken. So fing es an.

An einem anderen Tag liefen wir zum Froschteich, stopften Frösche in ein großes Einmachglas und ließen sie in der Wohnung meiner Mutter frei. Die war nicht begeistert. Wir hatten auch eine breite Dose, in der vorher Süssigkeiten der Tommies waren und in deren Boden wir mit Nägeln Löcher gebohrt hatten. Ein Seil hatten wir dran gebunden. Wir benutzen die Dose, um an der Alster Stichlinge zu fangen.

Es gab keine Reichtümer. Es wurde getauscht, gefeilscht. Einer kam mit einem Sack Kartoffeln, ein anderer mit Speck, dann mit Mehl. Auf dem Balkon wurde mit Ziegelsteinen ein Ofen gebaut. Mein Vater baute Bohnen im Vorgarten des Mietshauses an. Im strengen Winter 1947 zogen meine Großmutter und ich einen Schlitten zum Ohlsdorfer Friedhof. Überall hörte man sägen, Knacken von Ästen. Wir machten mit und brachten Holz nach Haus. Es war auch die Zeit des Kohlenklaus, der das Kriegsende gut überstanden hat. Auf den Güterbahnhöfen wurden die Kohlezüge gestürmt.
Kurz und gut. Bei uns gab es keine Klassenunterschiede. Bei uns waren die Chancen gleich. Auch die Chancen, vom Lehrer eins mit dem Rohrstock übergezogen zu bekommen. Wir trugen alle Lederhosen. Die Kindheit war einfach bombig, ein Abenteuer. Insofern ist mir das, was im Spiegel steht, fremd.



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