Im „Spiegel“ vom 9.5.
gab es einen Artikel über die Chancengleichheit. Als Fazit stand
gleich am Anfang: „Bildung, Wer in Deutschland als Kind armer
Eltern geboren wird, gleicht diesen Nachteil meist nicht mehr aus.“
Tja. Nach dem Krieg waren
wir fast alle arm. Wenigstens der Mittelstand. Ich bin Jahrgang 39.
Über die Wohnung, die wir hatten, kann ich nicht meckern. Sie lag in
einem ruhigen Vorort Hamburgs, in Fuhlsbüttel, in einer
Seitenstraße. Die Wohnung hatte Zentralheizung, Telefon, warmes
Wasser. Mein Großvater war Vertreter von Schokolade, dann kaufte er
einen Stand im Bahnhof Barmbeck. Der Bruder meiner Großmutter besaß
einen Gemüseladen. Mein Vater war Bankangestellter, sprach neben
Deutsch Spanisch, Englisch und Französich und hatte daher wohl das
Glück in Frankreich zu kämpfen, während mein Onkel in Russland
gefangen genommen wurde. Während des Krieges arbeiteten meine Tanten
entweder in einer Munitionsfabrik oder waren Funkerinnen in einem
Fliegerhorst. Ich erinnere mich daran, wie mich Soldaten in einen
Jäger gesetzt hatten und mir das Flugzeug zeigten. Meine Mutter
spielte Akkordeon und sang in Russland und meine Großmutter
transportierte Geld von Bank zu Bank. Ich wurde herumgereicht.
Entweder war ich in Fuhlsbüttel, wenn meine Mutter zu Hause war, in
einem Hotel in Lübeck, evakuiert in Bayern, oder bei meiner Oma in
Barmbek. Erlebte gerade noch, als das Haus ausgebombt wurde und wir
irgendwo anders unterkommen mussten. Mal war es ein Hotel mit
Künstlern und Artisten. Die bekannteste aus dem Hotel, mit der ich
mich als Knirps unterhielt, war Lale Andersen, deren „Lili Marleen“
das Radio an der Front dudelte.
Was Musik anging, kann ich
mich noch an die Lautsprecher am Timmendorfer Strand erinnern, über
die Märsche und Sondermeldungen zum Krieg über den Sand wehten.
Was die Zeit nach dem
Krieg anging, so war die Kindheit bombastisch. Eine meiner Tanten
hatte sich mit einem Tommy verlobt, der, wie sie zu spät merkte, in
England schon verheiratet war, lol. Immerhin konnte ich dann und wann
in seinem Militärlaster mitfahren und ich bekam die erste
elektrische Eisenbahn von ihm.
In unserer Straße waren
wir eine Bande aus rund 10 Kindern, die ständig draußen spielten,
weil die Eltern andere Sorgen hatten. Die Straße bestand aus großen
Asphaltplatten, so dass wir ein Klasse Spielfeld hatten. Wir spielten
einmal berühren. Ich glaube, mit einem Tennisball. Jede Seite durfte
den Ball nur einmal mit dem Fuß berühren und versuchen, ihn über
die gegnerische Linie zu bringen. Unsere Fähigkeit für Innovationen
kannte keine Grenzen. Wir schlugen Löcher mit einem Nagel in
Blechdosen, hängten sie an einen Draht und füllten sie mit
Dachpappe und Blättern, die wir anzündeten. Dann schwenkten wir
sie, während wir durch die Straßen liefen. Sie stanken so herrlich.
Wir bauten Holzgewehre mit Brett, Nägeln, Wäscheklammern und
Gummiband und schossen mit harten Erbsen. Später hatten wir
Katapulte und Stahlzwillen, die wir in offene Fenster schossen, dann
Bleistiftverlängerer, die wir als Blasrohre benutzten. Als Streich
banden wir ein Seil an Griffe von zwei gegenüberliegende
Wohnungstüren, die sich nach innen öffneten, klingelten und liefen
weg. Wir kletterten Bäume und Laternenpfähle hoch, sammelten
Granatsplitter zwischen Trümmern.
Das war die Zeit, als
unsere Zehen aus abgeschnittenen Schuhspitzen ragten, weil die Schuhe
uns nicht mehr passten. Ganz waren unsere Schuhe im Winter. Doch die
hielten nicht lange, weil wir unsere Schlittschuhe daran schraubten.
Mit der Zeit, wenn wir auf der Alster und Kanälen herumtobten,
rissen die Hacken ab. Hudora hießen die Schlittschuhe, fiel mir
gerade ein. Danach googelte ich. Wahnsinn, die gibt es immer noch.
Die Firma existiert schon seit 1919.
Schwimmen haben wir uns
selbst beigebracht. Wir liefen mit Badehose und umgebundener
Schwimmweste von zu Haus los, trafen uns unterwegs, trabten zum
Schwimmbad Ohlsdorf, bliesen die Schwimmwesten auf und sprangen ins
tiefe Becken. So fing es an.
An einem anderen Tag
liefen wir zum Froschteich, stopften Frösche in ein großes
Einmachglas und ließen sie in der Wohnung meiner Mutter frei. Die
war nicht begeistert. Wir hatten auch eine breite Dose, in der vorher
Süssigkeiten der Tommies waren und in deren Boden wir mit Nägeln
Löcher gebohrt hatten. Ein Seil hatten wir dran gebunden. Wir
benutzen die Dose, um an der Alster Stichlinge zu fangen.
Es gab keine Reichtümer.
Es wurde getauscht, gefeilscht. Einer kam mit einem Sack Kartoffeln,
ein anderer mit Speck, dann mit Mehl. Auf dem Balkon wurde mit
Ziegelsteinen ein Ofen gebaut. Mein Vater baute Bohnen im Vorgarten
des Mietshauses an. Im strengen Winter 1947 zogen meine Großmutter
und ich einen Schlitten zum Ohlsdorfer Friedhof. Überall hörte man
sägen, Knacken von Ästen. Wir machten mit und brachten Holz nach
Haus. Es war auch die Zeit des Kohlenklaus, der das Kriegsende gut
überstanden hat. Auf den Güterbahnhöfen wurden die Kohlezüge
gestürmt.
Kurz und gut. Bei uns gab
es keine Klassenunterschiede. Bei uns waren die Chancen gleich. Auch
die Chancen, vom Lehrer eins mit dem Rohrstock übergezogen zu
bekommen. Wir trugen alle Lederhosen. Die Kindheit war einfach
bombig, ein Abenteuer. Insofern ist mir das, was im Spiegel steht,
fremd.
Nessun commento:
Posta un commento