Leuchtfeuer
von Klaus Eylmann
Wie die
Zeit läuft. Schon wieder Herbst, und in Horsdorp an der Wümme prasselte Regen
gegen die Butzenscheiben des „Roten
Ochsen“, in dem sich zwei grantelnde Bauern bei einem Bier über ihre Frauen
unterhielten, während das Schlagzeug einer Band vom Tanzsaal herüberhämmerte.
Die Kapelle
spielte etwas Langsames. An einem der Tische saß Peter Grützmann und stierte
auf die Frau seiner Träume, die sich mit ihrem Mann auf der Tanzfläche drehte,
und er sang mit: „Me and Mrs. Jones, we got a thiiiiing going on.”
Er hörte
nicht, wie der Wirt rief: „Hallo Iggy! Am Tisch neben der Säule sitzt dein
Freund Grützmann und himmelt Lisa Lammer an.“
“Alter, das
ist nicht Mrs. Jones. Das ist Frau Lammer, die dort tanzt.“ Plötzlich stand neben Grützmann ein junger
Kerl, strich sich über das gegelte Haar, wackelte mit den Hüften und sang:
„Here comes Johnny Yen again with the Liquor and Drugs and the flesh machine.“
“Iggy!“ Grützmann
sprang auf. „Wann habe ich dich das letzte Mal gesehen? Jahre ist das her. Setz
dich, Mann!“ Er drückte Iggy auf einen Stuhl, ließ sich auf seinen Sitz fallen
und sah wieder auf die Tanzenden. „Sie lächelt mich an“, stöhnte er.
„Du bist
nicht der einzige.“ Iggy räkelte sich. Der Messingknopf an seiner Nase
funkelte.
„Lisa
Lammer ist ein Leuchtfeuer“, fuhr er fort. „Sie rotiert und blinkt die Männer
an. Achte mal auf die in ihrem Blickfeld.“
Auf deren Gesichtern war ein idiotisches
Grinsen zu sehen, dass wieder verschwand, sobald sich Frau Lammers Blick nicht
mehr auf sie richtete.
“Du meinst....”. Grützmann war wie betäubt.
„Genau, und dabei hast du dich so fein
gemacht. Den Konfirmationsanzug wieder aufgebügelt?“ Iggy kicherte und stand
auf: „Gehen wir in die Gaststube.“
Wie
benommen folgte Grützmann und bestellte zwei Bier bei der Bedienung, die
mürrisch hinter der Theke stand.
„Und ich dachte, sie hätte nur mich
angelächelt.“ Grützmann starrte in sein Bier. Dann sah er hoch. „Wo hast du die
ganze Zeit gesteckt?“
„Physik studiert, in Dünkelskirchen, und
nebenbei...“ Iggy prostete Grützmann zu. „Nebenbei habe ich eine Zeitmaschine
gebaut.“
„Ich glaube, ich gehe wieder nach drüben“,
bemerkte Grützmann. „Was? Zeitmaschine? Schön wäre es. Ich gäbe dir die Hälfte
von 1000 Euro, wenn du in die Vergangenheit reist und meinen Großvater
umbringst, bevor er Kinder gezeugt hat. Die andere Hälfte bekämst du, wenn du
zurückgekommen bist.“
„Was für ein Trickser.“ Iggy grinste.
„Grützmann, dann existierst du doch gar nicht und das wolltest du doch, oder?
Dann,“ überlegte er, „könntest du mir dein ganzes Geld geben.“ Iggy erhob sich.
„Du hast dich in eine verheiratete Frau verliebt. Ist dir noch zu helfen? Ich
habe nicht viel Zeit. Ich zeige dir den Apparat am besten gleich. Komm mit. Ist
nicht weit.“
Iggy führte
ihn zu einer Scheune, die leer war bis auf ein Drahtgestell, das, wenn man
seine Phantasie spielen ließ, an das Stargate erinnerte.
„Dieser
Ring da?“, fragte Grützmann. “Das ist alles?“
„Die
Intelligenz steckt in meinem Notebook.“ Der Ring war durch Kabel mit einem
Laptop verbunden, der auf einem Klapptisch ruhte.
“Sie quantifiziert die Zeit“, fuhr Iggy fort.
„Ich mache es simpel. Zeit ist eine in unendliche Anzahl von Möglichkeiten
gesplittete Dimension, die in jedes Lebewesen dringt und es als Strang in Form
der berechenbaren Vergangenheit verlässt.“
„Und wenn
man Objekte durch schickt“, Grützmann
zeigte auf den Ring, „verschwinden diese? Perfekte Lösung zur Müllbeseitigung.
Die Kommune schiebt ein Förderband zur Hälfte durch den Ring. Würde das
funktionieren?“
„Probieren
wir es aus.“ Iggy verschwand nach draußen, kam mit einer Eisenstange zurück,
ging zum Ring und schob sie zur Hälfte hindurch. Iggy wurde in die Luft
geschleudert. Die Stange verschwand.
„Mann, wenn
ich die Stange nicht losgelassen hätte... . Was den Vorschlag mit dem Müll
betrifft. Alles, was hinter dem Ring verschwindet, kommt nach einigen Stunden
wieder zurück. Würde das nicht passieren, wäre es trotzdem sinnlos, denn die
Erde wäre in unserer Zeit längst zugemüllt.“
„Wo und
wann lande ich, wenn ich durch den Ring steige?“
„In
Horsdorp und um die Zeit herum, die ich in den Bildschirm eingegeben habe“,
antwortete Iggy. „Es ist ein Quantum Computer.“ Iggy zeigte auf den Laptop.
„Der kann gar nicht exakt arbeiten. Würde er das tun wollen, funktionierte er
nicht. Das ist doch wie bei eurer, ähm, ich meine bei unserer Bundeskanzlerin.
Als Physikerin kennt sie die Quantenmechanik. Je genauer ihre Aussagen sind,
desto weniger funktioniert ihre Politik.“
„Cool.“
Grützmann kratzte sich am Kopf und stellte sich vor den Ring. „Kann ich da mal
durchgehen? Ich komme doch wieder zurück, oder?“
„Ich habe
noch nie einen Menschen durch geschickt. Aber Mensch oder lebloses Objekt. Das
Gesetz ist für alle gleich.“ Iggy lachte. „Das physikalische.“ Er machte sich
am Computer zu schaffen.
„Ich stelle
ihn auf minus 60 Jahre ein. Wenn du nicht innerhalb von 6 Stunden wieder
zurückkommst, hast du deinen Großvater umgebracht.“ Grützmann machte einen
Schritt vorwärts.
Die träg
dahin fließende Wümme war das erste, was er sah. Er stand auf dem Deich. Es war
neblig und Grützmann erblickte mit Mühe Blüten und Konturen der Apfelbäume. Er
lief den Abhang hinab, kletterte über ein paar Zäune und machte sich auf den
Weg in die Stadt. Auf den ersten Blick hatte sich an der Dorfstraße nichts
verändert. Er sah den Roten Ochsen, doch dann ein paar Birken und hohes Gras,
wo das Autohaus Lammer hätte stehen müssen. Grützmann dachte an Lisa und
seufzte, bewegte sich auf die Kirche am Marktplatz zu. Daneben musste sich das
Fahrradgeschäft befinden, das sein Vater vom Großvater übernommen hatte. Er sah
einen Blumenladen.
Grützmann
setzte sich auf eine Bank. Die Zeit sei wie ein Gummiband, hatte Iggy gesagt,
und würde ihn in wenigen Stunden zurückholen. Seinen Großvater umzubringen, nur
damit er selbst aus dem Leben verschwinden konnte, war vielleicht doch keine so
gute Idee. Zumal es seinen Vater dann auch nicht mehr gäbe. Und was würde dann
aus dem Fahrradgeschäft?
Ein junger
Mann setzte sich neben ihn und packte sein Brot aus.
„Hallo.“
Grützmann erwiderte den Gruß.
„Neu
hier?“
„Zur
Hälfte.“ Der Nebel versteckte sich zwischen den Apfelbäumen. Die Sonne brannte.
„Ich war
schon in Horsdorp“, erklärte Grützmann. „Aber nicht zu dieser Zeit.“
„Hier
ändert sich nichts.“ Der Junge biss herzhaft in die Stulle. „Bis jetzt. Sehen
Sie das Blumengeschäft dort?“ Eine Weile sagte er nichts, verzehrte sein Brot.
Er fuhr
fort: „Der Besitzer macht dicht und geht in Pension. Ich übernehme den Laden
und verkaufe dann Fahrräder.“ Der Junge stand auf, sagte: „Ich muss jetzt los“,
und ging.
Grützmann
blieb das Wort im Hals stecken. Er sah dem Jungen nach. War das sein Großvater?
Die Uhr zeigte ihm, dass drei Stunden vergangen waren, und er ging zum Deich
zurück. Der Nebel machte sich bemerkbar, wurde dichter. Er stieg die Anhöhe
hoch, ging nervös auf und ab. Meisen landeten auf dem Schilf, flogen davon.
Mücken tanzten über dem Wasser, Frösche quakten, Wasserhühner schwammen in Ufernähe
herum. Aus dem Nebel trat eine weibliche Gestalt hervor. Ihr Gesicht war
bleich. Sie trug das Kleid, das er an ihr bewundert hatte.
„Frau
Lammer!“ Grützmann errötete.
„Oh!“, rief
die Frau. „Sie sind doch der junge Mann, der bei Schlachter Großkopf arbeitet!“
„Der bin
ich,“ strahlte Grützmann. „Doch wie sind Sie in diese Zeit gekommen?“
„Ach“,
antwortete Lisa. „Mein Mann war im Tanzsaal eingeschlafen und dann kamen die
jungen Männer auf mich zu. Aus allen Richtungen. Es waren so viele. Ich war wie
gelähmt. Plötzlich stand Ihr Freund Iggy neben mir und bot an, mir seine
Zeitmaschine zu zeigen. Er war mein Retter; denn nun bin ich bei Ihnen.“
Ein „Oh“ entfuhr
Grützmann. „Ich heiße Peter.“ Er trat näher an Lisa heran. „Wissen Sie, dass
wir nach einigen Stunden wieder in unsere Zeit zurück fallen, in der ich Sie
nur aus der Ferne anbeten kann?“
„Das ist so lieb, wie du das sagst, Peter.“
Lisa schmiegte sich an ihn. „Küss mich.“ Sie hob ihm ihr Gesicht entgegen. Dann
stand er plötzlich auf dem Marktplatz.
Eben schien
noch die Sonne. Nun kam der Mond hinter den Wolken hervor, und die Häuser
glotzten Grützmann mit erleuchteten Fenstern an. Er rannte los. Bis zur Scheune
waren es nur zehn Minuten. Er wollte zu Lisa, er wollte durch den Ring. Die Scheune
war leer, als habe es Iggy und seine Zeitmaschine nie gegeben. Grützmann
fluchte und schlurfte mutlos auf Schlachter Großkopfs Haus zu, in dem er ein
Zimmer bezogen hatte, wo er diese Nacht keinen Schlaf fand.
Am nächsten
Morgen kam Lisa in die Schlachterei. Sie trug Mantel, Sonnenbrille, die nur
mühsam die Schwellungen darunter verbarg, und bestellte Gemischtes Hack.
Grützmann packte noch zwei Steaks dazu und flüsterte: „Sie wissen schon wofür.“
100 Jahre
später hielt Iggy ein paar CDs in der Hand
„Drei coole Alben von Iggy Pop. Spielen wir sie, solange sie da sind.“
Und schon dröhnte der „Passenger“ durchs Labor. „I´m the Passenger, and I ride and I ride... .“
„Hast du
deinen Großvater gefunden?“, fragte ein Kollege.
„Er war
nicht in Horsdorp. Er studierte in Dünkelskirchen. Ich wollte ihm die
Zeitmaschine zeigen, ihn stolz machen
und ihm sagen, mit was für tollen Genen er ausgestattet war. Dafür traf ich
dessen Freund, dem ich zu einem Abenteuer verholfen habe, das er nicht
vergessen wird.“
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