Luigi
Luigi Cassonetto lag auf dem ungemachten Bett, starrte an die Zimmerdecke, drehte sich auf die Seite mit Blick auf den mit leeren Bierflaschen zugemüllten Teppich, dachte an Mama und schlief ein. Der Fernseher lief. Ein Nachrichtensprecher berichtete, dass ein Raumschiff im Hochmoor von Hamburg-Lemsahl niedergegangen sei.
Am Morgen darauf bewunderte Luigi seinen Körper wie gewohnt vor dem Spiegel und rief: „Mama, Mama, wie hast du das nur hinbekommen?“ Im Bus reckten sich ihm Bildzeitungen mit der knalligen Überschrift entgegen: „Marsmenschen in Hamburg! Beginn einer Invasion?“
Luigi stieg an der nächsten Station aus, überquerte die Straße und betrat die Pizzeria seines Onkels. Dann griff er nach Wassereimer, Schrubber, Feudel. Später kam Onkel Carlo in das Lokal, ein kleiner Mann mit grauen Haaren, Walrossbart und einem traurigen Blick.„Raumschiff hin, Raumschiff her“, sagte er. „Pizza wird immer gegessen.“
Den Deutschkurs für Ausländer besuchte Luigi an seinem freien Donnerstag. Um die zwanzig Personen aus aller Herren Länder sprachen Frau Brinkmann nach: „Bitte nicht den Fahrer stören.“ Sie waren bei „Hasso, pass auf, da kommt ein Ball!“, als die Tür aufging, eine Frau in das Klassenzimmer huschte und sich neben Luigi setzte. Er schob ihr sein Buch zu und zeigte auf den nächsten Satz.
„Ich heiße Luigi“, raunte er, „und komme aus Italien.“ Neben ihm saß ein ätherisch aussehendes
bleiches Wesen mit einer schwarzen Haarpracht, die ihr über die Schultern fiel. Die Augen in ihrem schmalen Gesicht schienen unter dem Licht der Leuchtstofflampen violett zu sein. Luigi konnte seinen Blick nicht von ihr lösen, als sie ihn anlächelte. Mama, dachte er, Mama, das ist sie. Sie sahen ins Buch und sprachen wie aus einem Mund: „Das ist Nina. Sie geht über die Straße.“
Später lud er sie zu einer Pizza in Onkel Carlos Lokal ein und erzählte von seiner Mama. Er wusste nicht, was über sie gekommen war. Plötzlich hatte sie gemeint, er solle mit seinen zweiunddreißig Jahren etwas aus seinem Leben machen. Er war sicher, sein Vater steckte dahinter, der aus unerfindlichen Gründen nicht mochte, dass er, Luigi, etwas von Mamas Pension für sich abgezweigt hatte. So hat der Vater ihm ein Ticket gekauft und in den Zug nach Hamburg gesetzt. Nun arbeitete er in Onkel Carlos Pizzeria.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass er die ganze Zeit Italienisch geredet hatte. „Entschuldigung“, sagte er: „Wie heißt du und woher kommst du?“ „Nina“, sagte sie, stand auf, beugte sich zu ihm hinab und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dann verschwand sie. Nina, dachte er. Wie die aus dem Buch.
Das Raumschiff flog nach einigen Tagen davon und ließ eine Kuppel zurück. Sie ragte neben den Hünengräbern empor und bestand aus einem von außen undurchsichtigen Material. Polizeibeamte hatten vergeblich versucht einzudringen. Sie ließen einen Wagen dort und machten sich wieder an das Tagesgeschäft.
Luigi fieberte dem nächsten freien Tag entgegen. Mama fing an zu weinen, als er am Telephon von Nina erzählte. „Luigi“, flehte sie. „Luigi, mach keinen Fehler. Stelle sie Onkel Carlo vor.“
Am Donnerstag Abend saßen sie wieder in der Klasse, sahen auf das Buch, dann lächelte sie und Luigi vergass alles andere um sich herum.
Später standen sie im Licht der Straßenlaterne. Nina zog ihn am Ärmel mit sich. Sie nahmen die S-Bahn, fuhren bis zur Endstation, dann schob sie ihn in einen Bus, der durch die Nacht zuckelte. Luigi blickte hinaus. Erleuchtete Fenster zogen wie ein unterbrochenes Band an ihm vorbei. Sie stiegen aus und gingen eine schmale Straße entlang. Das Plätschern eines Baches begleitete sie. Eine Viertelstunde waren sie noch unterwegs, bis die letzten Häuser hinter ihnen verschwunden waren. Knacken, Rauschen, Sprechfunkparolen wehten zu ihnen herüber. Luigi machte ein Polizeifahrzeug aus. Dann sah er die Kuppel, die sich gegen einen sternenbedeckten Horizont abhob. Die junge Frau ergriff Luigis Hand. Sie warteten, dass der Polizeiwagen seine Runde machte, rannten auf die Kuppel zu und durchquerten die Wand.
Dio mio, ein Alien! Wie hat sie das gemacht? Luigi zwang sich stillzustehen. Sie befanden sich in einem runden Saal. Sein Herz hämmerte. Vor ihm stand eine Zelle, mannshoch, aus einem schimmernden Metall, die Platz für mehrere Menschen bot. „Nina, wer bist du?“, fragte er.
„Chiedimi come mi sento. Luigi, io sono solo e ho bisogno di te!“ Er vernahm ihre Stimme in seinem Kopf. Telepathie in italiano! Mama mia! Verwirrt blickte er nach außen. Das Polizeifahrzeug hatte angehalten.
„Ich bin ...“ Sie schien nach Worten zu suchen. „Ich bin ein Beobachter.“ Bilder manifestierten sich in Luigis Hirn. In einem bewegte sich das Raumschiff von der Erde fort. In einem anderen sah er die Zelle, in der die Frau auftauchte.
„Das Raumschiff wurde vor über hunderttausend Jahren von meinem Planeten gestartet. Es fliegt ohne Besatzung. Findet es intelligentes Leben auf einem Planeten, hinterlässt es dort eine Beobachtungsstation und ich teleportiere von der zuvor erstellten dorthin.“
„Wieso das?“, staunte Luigi, „bleiben die anderen Stationen unbesetzt?
„Dort lebt eine Kopie, wie ich es bin“, erwiderte sie. „Mein Original befindet sich auf dem Heimatplaneten.“ Gefaxt, dachte Luigi benommen. Nina wurde durch das Universum gefaxt! Er sah sich nach einem Ausgang um und fand keinen, dann blickte er auf die Uhr. Wann fuhr der letzte Bus?
„Luigi, bleib bei mir! Ihr seid die erste humanoide Lebensform, die wir entdeckt haben und ihr seht aus wie wir! Luigi, wie lange habe ich auf dich gewartet.“
„Morgen muss ich arbeiten.“ Sie wird nicht kochen können. Was würde Mama dazu sagen?, fragte sich Luigi und erhob sich. „Wo ist der Ausgang?“
„Luigi, ich brauche, ich liebe dich“, flüsterte sie. „Doch wenn du nicht bei mir bleiben kannst...“ Nina ging in die Zelle hinein. „Dann werde ich auf meinen Heimatplaneten zurückkehren.“ Nina streckte die Arme nach ihm aus. „Küss mich zum Abschied.“
Luigi zögerte, ging zu Nina, umarmte sie und drückte seine Lippen auf ihren Mund. Nina zog ein beschriebenes Blatt hervor und gab es ihm.
„Eine Mitteilung an die Autoritäten dieses Planeten. Behalte es“, flüsterte sie ihm ins Ohr, und glitt aus der Zelle. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Er kam wieder zu sich und erhob sich taumelnd. Nina stand vor ihm, griff nach dem Zettel und las ihn. Außerhalb der Kuppel war es noch immer dunkel. Dort schwammen riesenhafte Kraken herum. Saugnäpfe hefteten sich an die Kuppel.
„Wo sind wir?“ Luigi schluckte. Nina lächelte ihn an, als sie ihm das Papier zurückgab. Dann verlor er die Besinnung. Als er sich zum zweiten Mal aufrappelte und Nina den Brief zum zweiten Mal las, tanzten feuerrote Gestalten durch die Flammen, die von außen gegen die Kuppel brandeten. „Luigi?“, sagte sie und gab ihm das Papier zurück. Er wurde bewusstlos und fand sich wieder in einer anderen Station.
„Ich begleite dich ein Stück.“ Nina ergriff Luigis Hand und trat mit ihm ungesehen durch die Kuppelwand. Sie gingen den Bach entlang. Nina sagte: „Kopien von dir sind zu den meinen unterwegs.“
„Santo Cielo!“, rief Luigi, „und ganz ohne Telefon. Wir müssen Mama auch kopieren!“
An der Bushaltestelle umarmte Nina Luigi und küsste ihn, dann lief sie davon. Er hörte, wie sie rief: „Das nächste Mal gehen wir zu dir!“ Und Luigi dachte an die leeren Bierflaschen auf seinem Teppich, an Mama, während der Bus hinter den Häusern hervorkam.
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