Hier die Januar Story von mir, die ich bei Schreib-Lust eingereicht habe:
Auf dem Weg zum Bäcker
Von Klaus Eylmann
Mit einem Holterdipolter lief Hans die Treppe hinab. Seine Mutter und er wohnten im ersten Stock. Es hätte ebenso gut der zweite oder der vierte sein kőnnen, oder sogar der sechste; denn auβer seiner Mutter und ihm wohnten nur noch... da kam sie schon.
„Guten Tag Frau von Nebenan“, rief Hans und lief an der dűnnen Frau vorbei, die schwer atmend die Treppe hochstieg.
„Das ist der Herr von nebenan“, hatte seine Mutter ihm erklärt, als sie vor Monaten einem rundlichen und geműtlich aussehenden Mann im Hauseingang begegneten.
Und dies war seine Frau, wusste Hans. Obwohl Műller auf dem Tűrschild stand. Doch was sagten Schilder aus. Es gab sie űberall in Haus, und die Wohnungen standen leer.
„Guten Tag Hans,“ keuchte die Frau. Sie schien es schwer zu haben, es bis zum ersten Stock zu schaffen. Irma war ihre Tochter. Hans wusste nicht, ob ihm Irma oder ihr Fahrrad besser gefiel. Es war so anders. Irma aber auch. Das Fahrrad lief ohne Kette, oder war diese unsichtbar? Und Irma hatte Augen schwarz wie Kohlen, die nicht mitlachen konnten. Und nun sollte Hans beim Bäcker Brőtchen holen.
„Ich komm mit“, sagte Irma, als er sie im Hauseingang traf. Sie holten ihre Fahrräder und machten sich auf den Weg.
Hans drehte sich noch einmal um. Der Boden um das Haus, vor dem ein Laternenpfahl stand, glänzte unter der Nachmittagssonne. Ringsherum begegneten sich Leere und Horizont, unterbrochen von der Schlachterei im Osten, dem Geműseladen im Sűden, einem Milchgeschäft im Westen und dem Bäcker im Norden. Gebäude wie Pusteln auf geőlter Haut, waren mit bloβem Auge kaum zu erkennen, und Hans wusste, dass er eine halbe Stunde brauchen wűrde, bevor er Brőtchen in seinen Korb packen konnte.
Irma fuhr Kreise um ihn, ihre goldgelben Zőpfe wippten, ihr Mund lachte. Hans wusste, sie mochte ihn, doch war ihr Blick so leer wie die glasige Fläche unter ihnen.
Hans dachte an den Laternenpfahl vor dem Haus, den er jeden Abend hochkletterte, um in Herrn von Nebenans Wohnung zu sehen. Dann saβ die Familie an einem runden Tisch. Er dick, sie dűnn, Irma klein und sűβ. Und sie bewegten sich nicht. Doch was Hans faszinierte war der leuchtende Kasten auf dem Tisch. Jedesmal hatte Hans gehofft, er wűrde ihm sein Geheimnis verraten.
Er trat kräftig in die Pedalen. Irmas Fahrrad wurde langsamer. In dem Maβe, in dem es seine Geschwindigkeit verringerte, wurden Irmas schwarze Augen grőβer, bis sie das ganze Gesicht einnahmen. Hans erschrak. So hatte er das Mädchen noch nie gesehen. Und dann wurden Hals, Arme, Beine von der Schwärze erfasst. Tentakeln sprossen aus ihrem Kőrper, der in sich zusammenfiel, während ihr Fahrrad zur Seite kippte, bis nur noch ein schwarzer Kloβ, aus dem sich Fangarme wie Haare der Medusa umeinander schlangen, auf dem Boden pulsierte.
„Irma!“ Hans blieb ohne Antwort. Beherzt griff er nach ihr und legte sie in seinen Korb. Bis zum Bäcker war es nicht mehr weit. Hans stieg in die Pedalen und fuhr, so schnell es Kraft und Atem erlaubten, zum Bäcker hin. Der stand in seiner Backstube und schob Brote in dem angeheizten Ofen herum. Er sah aus wie der Schlachter, der wie der Geműsehändler, und dieser wie der Milchmann, und der Milchmann wie der Herr von Nebenan. Hans lief an dem Bäcker vorbei in dessen Wohnung hinein. Auf dem Wohnzimmertisch stand ein leuchtender Kasten, wie der des Herrn von Nebenan. Hans langte in seinen Korb und setzte Irma vor dem Kasten ab. Dann ging er in die Backstube und bestellte die Brőtchen. Nach einer Weile, in der flinke Hände den Teig zu Brőtchen formten, kam Irma mit wippenden Zőpfen in die Backstube. Sie lächelte Hans an. Nicht nur ihr Mund, auch ihre schwarzen Augen zeigten Leben. Oder spiegelte sich das Feuer des Backofens in ihnen?
Hans bedankte sich fűr die Brőtchen, packte sie in seinen Korb, reichte Irma die Hand und sie gingen in die unendliche Weite, von einem wolkenlosen Himmel bedeckt und einer rőtlichen Untergangssonne bestrahlt. Hans hob Irma auf den Gepäckträger seines Fahrrades und machte sich auf den Heimweg. Hin und wieder spűrte er, wie sich eine Tentakel um ihn wand, Irma sich an ihn drűckte und damit zwickte, und Hans fűhlte sich wohl dabei.