Der Scanner
Eine Horde Enten folgte der Frau, die Brotbrocken auf den verschneiten Weg gestreut hatte. Leo schlug den Mantelkragen hoch und stapfte hinter den Enten her, die wenig später an einer Gruppe von Männern vorbeiwatschelten. Diese hielten mit rotgefrorenen Gesichtern ihre Hände in den Taschen der Mäntel vergraben, während sie von einem Bein aufs andere traten.
„Springer auf e5. Um Gotteswillen, ich halt es im Kopf nicht aus. Er setzt ihn auf h4. Das hätte Zukertort aber anders gespielt."
„Und der ist seit über hundert Jahren tot." Leo erkannte Harrys Stimme und sah, wie er mit műrrischem Gesicht die Positionen studierte. Er machte seinen Zug.
„Schach", sagte er. "Das war’s dann wohl." Sein Gegner kratzte sich am Kopf.
„Verdammt Harry, Du wirst mir unheimlich."
Das war’s dann wohl. Leo kannte Harry seit mehr als einem Jahr, und er war erstaunt, wie dieser innerhalb eines Monats an Spielstärke gewonnen hatte. Mittlerweile schlug er jeden, der gegen ihn antrat.
Leo und Harry sahen sich noch einige Partien an. Vom Urlaub abgesehen pflegten sie sich einmal die Woche hier zu treffen. Hin und wieder konnten sie ihre Frauen dazu überreden mitzukommen. Weitaus jünger als ihre Männer wirkten sie attraktiv mit langen Beinen unter kurzen Röcken und schienen unter diesen zauselig graumelierten Kerlen so fehl am Platz wie Stripper unter Klosterbrűdern. Das sahen sie wohl selbst, denn sie hielten sich stets nur einige Minuten auf. Leo und Harry hingegen blieben drei Stunden oder darűber hinaus, doch diesmal schien es Harry zu langweilen.
„Ich gehe“, sagte er. Leo begleitete ihn. Harry, groβ und hager, besaβ ein aristokratisch geschnittenes Gesicht und volles Haar. Seine Augen waren grau wie der Himmel űber ihnen. Er zog sein rechtes Bein etwas nach. Es war ein Autounfall gewesen, so erzählte er.
Leo, klein und gedrungen mit wieselflinken Augen in einem runden Gesicht, blieb eine Weile stumm, dann brach es aus ihm hervor: „Ich verstehe nicht, wieso du auf einmal so gut geworden bist."
„Köpfchen und das hier." Harry zog ein erbsengroßes Objekt aus seinem rechten Ohr. Es glich einer gläsernen Murmel. „Ein Miniaturscanner, auf ein spezifisches Gehirnareal des Gegenübers ausgerichtet.“ Harry lieβ ihn űber seine Handfläche rollen. „Er zeigt mir an", so fuhr er fort, „welche Figuren der Gegner als nächste nimmt. . Ich kenne nicht die nächsten Zűge, aber die Figuren zu wissen grenzt die Möglichkeiten stark ein.“ Harry sah Leo von der Seite an. „Ich muss allerdings die Gedanken der herumstehenden Personen herausfiltern, indem ich mich auf den Gegner konzentriere. Das Interessante daran ist, dass ich vor ihm weiβ, welche Figur er nehmen wird." Die Hochbahnbrűcke kam aus dem Dunst hervor.
„Im Neurobiologischen Institut”, fuhr er fort, „haben wir es herausbekommen. Das Gehirn denkt im voraus, ohne es sofort dem Bewusstsein mitzuteilen.“ Harry steckte den Scanner ins Ohr zurűck.
„Es ist so klein, unvorstellbar, dass dieses Gerät zu so einer Leistung fähig ist“, zweifelte Leo. Die Bahnstation kam in Sicht.
„Nanotechnologie, cutting edge“, meinte Harry. „Dieses Gerät liest den visuellen Teil der Gedanken, und damit habe ich genűgend Zeit und Informationen fűr den Gegenschlag.“
„Dann hast du doch noch von deiner Arbeit profitiert.“ Leo schlug Harry auf die Schulter.
„Das kommt erst.“ Sie blieben am Bahnhof stehen. „Ich will das Gerät zum Patent anmelden. Vorher werde ich mich damit als Schachgroβmeister profilieren.“
„Preisgelder, verstehe“, meinte Leo trocken.
„Komm noch mit auf ein Bier.“ Sie hatten noch zehn Minuten zu gehen, ehe sie Harrys Wohnung betraten.
„Kűss mich!“ Eine Frauenstimme.
„Woher weiβ sie, dass ich hier bin?“, flűsterte Harry.
„Was soll ich kűssen? Deine Nippel? Dein Gesicht? Deine...“
„Das ist doch, das ist doch“, stotterte Leo.
„Deine Frau“, zischte Harry mit rotem Gesicht. Er ging auf eine Tűr zu. Bevor Leo ihn zurűckhalten konnte, riss er sie auf und brűllte: „Was geht hier vor?“
Das Bett war zerwűhlt. Zwei nackte Frauen, halb volle Champagnergläser, ein Dildo. Leos Frau drehte sich zu ihrem Mann. Er war unfähig einen Gedanken zu fassen.
Harrys Frau ging auf diesen zu und verpasste ihm eine Ohrfeige. Angriff ist die beste Verteidigung, wer hatte das gesagt? Clausewitz? Leo beobachtete, wie der Scanner aus Harrys anderem Ohr herausflog und auf dem Bett landete.
„Das ist allein deine Schuld“, setzte sie an. Harry wirkte benommen. Leo lieβ sich auf das Bett fallen und tastete mit der Hand nach dem gläsernen Objekt.
„Schachbűcher, Schachspiele, Schach, Schach immer nur Schach. Und jetzt spielst du den űberraschten Ehemann!“ Leo strich sich űbers Haar und lieβ den Scanner in seinem Ohr verschwinden.
„Harry, deine Frau hat wohl Recht. Wir sollten in aller Ruhe darűber reden.“ Harry sagte nichts.
„Komm, wir machen Kaffee.“ Die beiden Frauen verschwanden in der Kűche. Leo hőrte Schluchzen. „Ich werde nicht von dir lassen.“ Und er versteifte sich in diesem flűchtigen Augenblick, als er vor seinen Augen die Ampulle mit dem Etikett sah, auf dem ein Totenschädel abgebildet war.
Die beiden Männer gingen ins Wohnzimmer zurűck.
„Das hätte ich mir niemals träumen lassen.“ Die Rőte in Harrys Gesicht hatte einer teigigen Blässe Platz gemacht. „Deine Frau hat meine Ruth verfűhrt. Wie lange geht das schon so?“ Leo wusste es genauso wenig und wieso war es seine Frau, die das Verhältnis begonnen hatte? Und wenn schon.
Der Kaffee dampfte in den Tassen. Ruth setzte zwei vor den Männern ab. Harry griff nach einer und trank. Dann setzte er seine Tirade fort. „Leo, wie konntest du das zulassen!“ Seine Hand fuhr zum Ohr. „Verdammt, wo ist mein Scanner!“
„Harry, du delirierst.“ Leo stand auf und ging ins Badezimmer. Er lehnte sich gegen das Waschbecken und wartete. Warum waren ihre Frauen nicht in seine Wohnung gegangen? Er hätte ihnen zugesehen, oder besser noch... . Er hőrte ein polterndes Geräusch. ‚Das war’s dann wohl, Harry.’ Das Bild eines Messers bildete sich vor seinen Augen. Vorsichtig őffnete er die Badezimmertűr, dann stieβ er sie auf. Ein Schrei, er hőrte einen dumpfen Laut, als er auf den Ausgang zurannte. Im Spiegel des Flures sah er seine Frau mit einem Kűchenmesser in der Hand auf dem Boden, dann ein paar ausgestreckte Beine hinter der offenen Wohnzimmertűr. Harry. Leo rannte die Stufen hinab. Sie hatten ihn vergiftet. Leo zog sein Handy hervor und rief die Polizei.
Am darauffolgenden Tag waren die Enten nicht zu sehen, doch die Männer standen wieder dort und beobachteten die Spieler. Leo gesellte sich zu ihnen.
„Entsetzlich, das mit Harry“, meinte einer von ihnen. Leo nickte.
„Wie konnte das nur passieren. Er war einer unserer Besten und hätte Groβmeister werden kőnnen.“ Leo nickte wieder und fűhrte eine Hand zum Ohr.
Eine Horde Enten folgte der Frau, die Brotbrocken auf den verschneiten Weg gestreut hatte. Leo schlug den Mantelkragen hoch und stapfte hinter den Enten her, die wenig später an einer Gruppe von Männern vorbeiwatschelten. Diese hielten mit rotgefrorenen Gesichtern ihre Hände in den Taschen der Mäntel vergraben, während sie von einem Bein aufs andere traten.
„Springer auf e5. Um Gotteswillen, ich halt es im Kopf nicht aus. Er setzt ihn auf h4. Das hätte Zukertort aber anders gespielt."
„Und der ist seit über hundert Jahren tot." Leo erkannte Harrys Stimme und sah, wie er mit műrrischem Gesicht die Positionen studierte. Er machte seinen Zug.
„Schach", sagte er. "Das war’s dann wohl." Sein Gegner kratzte sich am Kopf.
„Verdammt Harry, Du wirst mir unheimlich."
Das war’s dann wohl. Leo kannte Harry seit mehr als einem Jahr, und er war erstaunt, wie dieser innerhalb eines Monats an Spielstärke gewonnen hatte. Mittlerweile schlug er jeden, der gegen ihn antrat.
Leo und Harry sahen sich noch einige Partien an. Vom Urlaub abgesehen pflegten sie sich einmal die Woche hier zu treffen. Hin und wieder konnten sie ihre Frauen dazu überreden mitzukommen. Weitaus jünger als ihre Männer wirkten sie attraktiv mit langen Beinen unter kurzen Röcken und schienen unter diesen zauselig graumelierten Kerlen so fehl am Platz wie Stripper unter Klosterbrűdern. Das sahen sie wohl selbst, denn sie hielten sich stets nur einige Minuten auf. Leo und Harry hingegen blieben drei Stunden oder darűber hinaus, doch diesmal schien es Harry zu langweilen.
„Ich gehe“, sagte er. Leo begleitete ihn. Harry, groβ und hager, besaβ ein aristokratisch geschnittenes Gesicht und volles Haar. Seine Augen waren grau wie der Himmel űber ihnen. Er zog sein rechtes Bein etwas nach. Es war ein Autounfall gewesen, so erzählte er.
Leo, klein und gedrungen mit wieselflinken Augen in einem runden Gesicht, blieb eine Weile stumm, dann brach es aus ihm hervor: „Ich verstehe nicht, wieso du auf einmal so gut geworden bist."
„Köpfchen und das hier." Harry zog ein erbsengroßes Objekt aus seinem rechten Ohr. Es glich einer gläsernen Murmel. „Ein Miniaturscanner, auf ein spezifisches Gehirnareal des Gegenübers ausgerichtet.“ Harry lieβ ihn űber seine Handfläche rollen. „Er zeigt mir an", so fuhr er fort, „welche Figuren der Gegner als nächste nimmt. . Ich kenne nicht die nächsten Zűge, aber die Figuren zu wissen grenzt die Möglichkeiten stark ein.“ Harry sah Leo von der Seite an. „Ich muss allerdings die Gedanken der herumstehenden Personen herausfiltern, indem ich mich auf den Gegner konzentriere. Das Interessante daran ist, dass ich vor ihm weiβ, welche Figur er nehmen wird." Die Hochbahnbrűcke kam aus dem Dunst hervor.
„Im Neurobiologischen Institut”, fuhr er fort, „haben wir es herausbekommen. Das Gehirn denkt im voraus, ohne es sofort dem Bewusstsein mitzuteilen.“ Harry steckte den Scanner ins Ohr zurűck.
„Es ist so klein, unvorstellbar, dass dieses Gerät zu so einer Leistung fähig ist“, zweifelte Leo. Die Bahnstation kam in Sicht.
„Nanotechnologie, cutting edge“, meinte Harry. „Dieses Gerät liest den visuellen Teil der Gedanken, und damit habe ich genűgend Zeit und Informationen fűr den Gegenschlag.“
„Dann hast du doch noch von deiner Arbeit profitiert.“ Leo schlug Harry auf die Schulter.
„Das kommt erst.“ Sie blieben am Bahnhof stehen. „Ich will das Gerät zum Patent anmelden. Vorher werde ich mich damit als Schachgroβmeister profilieren.“
„Preisgelder, verstehe“, meinte Leo trocken.
„Komm noch mit auf ein Bier.“ Sie hatten noch zehn Minuten zu gehen, ehe sie Harrys Wohnung betraten.
„Kűss mich!“ Eine Frauenstimme.
„Woher weiβ sie, dass ich hier bin?“, flűsterte Harry.
„Was soll ich kűssen? Deine Nippel? Dein Gesicht? Deine...“
„Das ist doch, das ist doch“, stotterte Leo.
„Deine Frau“, zischte Harry mit rotem Gesicht. Er ging auf eine Tűr zu. Bevor Leo ihn zurűckhalten konnte, riss er sie auf und brűllte: „Was geht hier vor?“
Das Bett war zerwűhlt. Zwei nackte Frauen, halb volle Champagnergläser, ein Dildo. Leos Frau drehte sich zu ihrem Mann. Er war unfähig einen Gedanken zu fassen.
Harrys Frau ging auf diesen zu und verpasste ihm eine Ohrfeige. Angriff ist die beste Verteidigung, wer hatte das gesagt? Clausewitz? Leo beobachtete, wie der Scanner aus Harrys anderem Ohr herausflog und auf dem Bett landete.
„Das ist allein deine Schuld“, setzte sie an. Harry wirkte benommen. Leo lieβ sich auf das Bett fallen und tastete mit der Hand nach dem gläsernen Objekt.
„Schachbűcher, Schachspiele, Schach, Schach immer nur Schach. Und jetzt spielst du den űberraschten Ehemann!“ Leo strich sich űbers Haar und lieβ den Scanner in seinem Ohr verschwinden.
„Harry, deine Frau hat wohl Recht. Wir sollten in aller Ruhe darűber reden.“ Harry sagte nichts.
„Komm, wir machen Kaffee.“ Die beiden Frauen verschwanden in der Kűche. Leo hőrte Schluchzen. „Ich werde nicht von dir lassen.“ Und er versteifte sich in diesem flűchtigen Augenblick, als er vor seinen Augen die Ampulle mit dem Etikett sah, auf dem ein Totenschädel abgebildet war.
Die beiden Männer gingen ins Wohnzimmer zurűck.
„Das hätte ich mir niemals träumen lassen.“ Die Rőte in Harrys Gesicht hatte einer teigigen Blässe Platz gemacht. „Deine Frau hat meine Ruth verfűhrt. Wie lange geht das schon so?“ Leo wusste es genauso wenig und wieso war es seine Frau, die das Verhältnis begonnen hatte? Und wenn schon.
Der Kaffee dampfte in den Tassen. Ruth setzte zwei vor den Männern ab. Harry griff nach einer und trank. Dann setzte er seine Tirade fort. „Leo, wie konntest du das zulassen!“ Seine Hand fuhr zum Ohr. „Verdammt, wo ist mein Scanner!“
„Harry, du delirierst.“ Leo stand auf und ging ins Badezimmer. Er lehnte sich gegen das Waschbecken und wartete. Warum waren ihre Frauen nicht in seine Wohnung gegangen? Er hätte ihnen zugesehen, oder besser noch... . Er hőrte ein polterndes Geräusch. ‚Das war’s dann wohl, Harry.’ Das Bild eines Messers bildete sich vor seinen Augen. Vorsichtig őffnete er die Badezimmertűr, dann stieβ er sie auf. Ein Schrei, er hőrte einen dumpfen Laut, als er auf den Ausgang zurannte. Im Spiegel des Flures sah er seine Frau mit einem Kűchenmesser in der Hand auf dem Boden, dann ein paar ausgestreckte Beine hinter der offenen Wohnzimmertűr. Harry. Leo rannte die Stufen hinab. Sie hatten ihn vergiftet. Leo zog sein Handy hervor und rief die Polizei.
Am darauffolgenden Tag waren die Enten nicht zu sehen, doch die Männer standen wieder dort und beobachteten die Spieler. Leo gesellte sich zu ihnen.
„Entsetzlich, das mit Harry“, meinte einer von ihnen. Leo nickte.
„Wie konnte das nur passieren. Er war einer unserer Besten und hätte Groβmeister werden kőnnen.“ Leo nickte wieder und fűhrte eine Hand zum Ohr.
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