Eine etwas längere Geschichte. Vor rund 20 Jahren geschrieben. Nun, da hatte ich mehr Zeit. Hatte ja die Newsletters noch nicht auf dem Zettel.
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Sonntag
Vormittag in London, und es war heiß, würde noch heißer werden, so
dachte Heinz und ging mit schleppenden Schritten über den Rasen des
Hyde Parks. In der Park Lane rauschte der Verkehr. Vor ihm schlief
ein Polizist im Gras. Ein paar Frauen saßen auf einer Bank und
unterhielten sich, dann sah Heinz den Liegestuhl.
Stimmen
kamen von irgendwo her. Heinz rieb sich die Augen. Der Polizist war
verschwunden. Es war noch heißer geworden. Heinz drückte sich aus
dem Liegestuhl und ging auf die Stimmen zu.
Frauen
und Männer standen auf Kisten, Leitern und redeten. Das war sie
also, die Speaker’s Corner von Marble Arch. Heinz gesellte sich zu
den Gruppen, die um die Sprecher herumstanden. Politik, Kultur,
Religion. Behauptungen, Forderungen, Unterstellungen. Sie ereiferten
sich. Die Sprecher. Alle. Es war laut, Stimmen überlagerten sich.
Wem sollte Heinz zuhören?, und er dachte an den Liegestuhl. Dann kam
ein Mann mit einer großen Leiter. Er trug einen altmodischen, grauen
Anzug. Wallende blonde Haare fielen ihm auf die Schultern. Sein
rundes Gesicht war von der Sonne gerötet. Er grüßte, machte ein
paar Scherze, dann schaute er auf den Boden und stellte seine Leiter
auf.
Heinz
sah, das Gesicht des Mannes, das eben noch freundlich schien, wurde
ernster, je höher er die Leiter erklomm und wurde fahl, als er auf
der letzten Sprosse stand. Seine Augen schienen vor Schreck geweitet,
und er rief: "Und ich sage euch: Der Jüngste Tag ist nah. Seht
ihr es nicht? Seht ihr nicht, wie London in einem Meer von Flammen
vergeht, der Big Ben zerbirst und die Tower Bridge in die Themse
fällt? Finsternis und ewige Verdammnis werden über uns herein
brechen, wenn Luzifer und seine dunklen Heerscharen sich den Planeten
untertan machen und die Seufzer unserer sündigen Seelen in glühend
heißer Luft verhallen."
"Mark,
hast du uns sonst noch was zu sagen?", brüllte jemand unter dem
Gelächter der anderen. Unbeholfen stieg der Redner die Leiter herab,
blieb einen Moment stehen, blickte ins Leere, dann sah er auf die
Leute. Seine Hände zitterten.
"Was ist? Was ist?",
fragte er. Niemand antwortete. Jemand lachte. Er schulterte die
Leiter und ging, ohne ein Wort zu verlieren, auf die Park Lane
zu.
"Wieso
hörst du schon auf?", rief ihm jemand nach, bevor er hinter
einer Ecke verschwand.
"Das
macht er immer so", meinte ein graubärtiger Zuhörer. "Es
ist, als sei er in Trance. Jeden Sonntag ruft er die Prophezeiung von
seiner Leiter herab und dann geht er."
"Alle
anderen diskutieren mit den Leuten. Dieser nicht. Und was veranlasst
ihn, jeden Sonntag hierher zu kommen?", fragte Heinz und sah:
Dort, wo die Leiter gestanden hatte, waren vier Steine in den Boden
eingelassen. Dann ging auch Heinz zur Park Lane hinunter. Er
beobachtete, wie der Redner die Leiter hinter der Männertoilette
abstellte und die Treppe zur U-Bahn Station hinab lief.
Irgend
etwas stimmte nicht mit dem Mann. Heinz fühlte es. Er ging zur
Speaker’s Corner zurück, beobachtete die anderen Sprecher sowie
die Menschen um sie herum, hörte ihnen zu, danach machte er sich auf
den Weg. In einigen Tagen ging es heim, und er hatte noch ein paar
Besichtigungen auf dem Programm.
Spät am Abend saß er in
einem Restaurant und wartete auf die Bedienung. Es war dunkel. Ein
paar Schnapsdrosseln torkelten am Fenster vorbei. Der Mann mit der
Leiter war ihm nicht aus dem Kopf gegangen. Was wäre, wenn er… .
Heinz sprang auf und lief aus dem Lokal. In Marble Arch hastete er
hinter die Toilette und nahm die Leiter mit. Die Speaker’s Corner
war verwaist. Hecken hielten das Licht der Straßen fern. Es war, als
hätten der Lärm der Redner, die Zwischenrufe der Zuhörer auf einem
anderen Planeten stattgefunden. Heinz klappte die Leiter auf. Die
vier Steine. Wo waren sie?
"Brauchst
du ne Taschenlampe?" Jemand stand neben ihm und hustete. Eine
Zigarette glimmte.
"Heiße
Jimmy," meinte der Mann. "Jetzt haben wir zwei Leitern.
Woher kommt deine?"
"Von
der Männertoilette." Was wollte der Mann?
"Die
von Mark? Stell sie zurück. Wir nehmen meine."
"Wozu?"
"Wollte
schon lange rausfinden, was Mark gesehen hat. Nur brauchte ich einen
Zeugen."
"Wart
auf mich," rief Heinz und trug die Leiter fort.
Als
er zurück kam, sah er den Kegel der Taschenlampe, beobachtete, wie
Jimmy die Leiter auf die Steine im Boden positionierte.
"Du
zuerst," meinte der mit einladender Handbewegung. "Übrigens,
wer bist du überhaupt?"
"Heinz
aus Deutschland. Was kann der Mark gesehen haben? Sein Verhalten war
äußerst seltsam."
Jimmy
hielt die Leiter fest. "Kletter rauf."
Heinz
stieg die Leiter hoch. Und als er auf der obersten Sprosse stand,
hallte es über die Marble Arch: "Und ich sage euch: Der Jüngste
Tag ist nah. Seht ihr es nicht? Seht ihr nicht, wie London in einem
Meer von Flammen vergeht… " Jimmy fluchte und trat gegen
die Leiter, so dass sie von den Steinen glitt. Heinz verstummte.
Zögernd kletterte er herunter und rührte sich nicht.
"Hast
du was gesehen? Was hast du gesehen? Du hast so laut geschrien. Ich
hatte Angst, die Polizei könnte jeden Moment kommen." Jimmy sah
sich um. "Das kann sie immer noch. Wir gehen am besten in
Deckung und prüfen, ob die Luft rein ist." Sie gingen zur
nächsten Hecke.
"Du
hast genau die gleichen Worte gesagt, wie Mark. Was hast du
gesehen?"
"Gesehen?"
Heinz war verwirrt. Hatte er etwas gesehen? Ihm schien so, und es
musste entsetzlich gewesen sein. Heinz Beine zitterten, als er sich
an der Leiter festhielt. Was war es?
"Ich
weiß es nicht." Jimmy trat seine Zigarette auf dem Boden aus.
"Dann probier ich es mal."
Sie
gingen auf den Platz zurück. Im Schein der Taschenlampe stellten sie
die Leiter auf die Steine im Boden.
"Es
geht nur dort", meinte Jimmy. "Irgendjemand muss das mal
rausbekommen haben. Vielleicht schon vor hundertfünfzig Jahren. So
lange existiert die Speaker’s Corner schon. Vielleicht wuchs hier
ein Apfelbaum, und beim Pflücken fing die Person so zu reden an wie
du eben. - Aber was sag ich da. Werde ich zu laut, dann schieb die
Leiter von den Steinen." Jimmy stieg die Sprossen empor. Kaum
war er oben, brüllte er: "Und ich sage euch: Der Jüngste Tag
ist nah. Seht ihr es nicht? Seht ihr nicht, wie London in einem Meer
von Flammen vergeht, der Big Ben zerbirst…" Heinz rückte die
Leiter weg.
"Was hast du gesehen?", fragte Heinz,
als Jimmy Anstalten machte zu gehen.
"Ich
glaube, es war so grausam, dass sich mein Hirn sträubte, es mich
wissen zu lassen. Aber ich weiß, es ist da drinnen." Jimmy
pochte an seinen Schädel. "Ich hoffe nur, es kommt nie an die
Oberfläche. Was habe ich eigentlich gesagt?"
"Das
Gleiche wie Mark am Sonntag." Gemeinsam gingen sie zur Park Lane
hinunter.
"Irgendetwas
ist da," meinte Jimmy, stellte die Leiter ab, und zündete sich
eine neue Zigarette an.
"Das
menschliche Gehirn im Koordinatenkreuz von was weiß ich.
Außerirdische Strahlung, Nachrichtenübertragung. Hols der Geier.
Lohnt nicht das zu melden. Sollte unter uns bleiben. Schließlich
geht das schon hundertfünfzig Jahre so. Wäre unverantwortlich an
der Tradition zu rütteln." Ein paar Autos und Nachtbusse fuhren
an ihnen vorbei. Sie blickten sich eine Weile an.
"Und",
sagte Heinz, "der Mark kommt jeden Sonntag."
"Shit. Du meinst, dass auch wir… ." Jimmys Stimme klang
gepresst. Er hustete.
"Ich
hoffe nicht. Aber meinen Rückflug werde ich von Sonntag auf
Sonnabend verlegen." Heinz gab Jimmy die Hand und sah, wie der
Mann mit Leiter und glimmender Zigarette in der Dunkelheit
verschwand.
"Dann
bis nächsten Sonntag, Jimmy!", rief ihm Heinz hinterher und
versuchte zu lachen. Es ging nicht.
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