Diesmal war er dran
Die Leuchtstofflampe flackerte im Schaufenster, gab für Bruchteile von Sekunden den Blick frei auf die Modepuppen. Es schien, als ob sie sich unter dem stroboskopischen Licht bewegten und auf den Mann hinabblickten, der einen Einkaufswagen in den Ladeneingang schob und dort ein Bett aus Pappkartons aufbaute.
Wind kam auf. Der Mann hielt einen Moment inne und blickte auf die Strasse hinaus. Papierfetzen wehten ueber den Bürgersteig, wurden für eine Weile gegen die Hauswand gepresst und verschwanden im Nichts. Summen ertönte in der Ferne, schwoll an. Eine Strassenbahn fuhr durch die Dunkelheit, hellerleuchtet wie ein Geisterzug. Kirchturmglocken dröhnten von oben herab. Es war neun Uhr und Hans war müde. Zuviel Fusel, den Egon, sein Kumpan vom Hauptbahnhof mit ihm geteilt hatte. Dann den ganzen Tag in der Fussgängerzone, um ein paar Mark für ein Päckchen Zigaretten und etwas zu essen zu schnorren.Ächzend legte sich Hans auf den harten Boden, verschwand in seinen Kartons und deckte sich mit einem langen Süeck Pappe zu.
Es fing an zu regnen Auf der Strasse rauschte es, wenn hin und wieder ein Wagen vorbeifuhr. Ein Mann auf dem Weg zu seiner Frau, die noch so spät mit dem Abendessen auf ihn wartete.
Das hatte Marta auch getan, wenn er in der Versicherung Überstunden gemacht hatte. Doch dann begann sie zu zweifeln, ob es tatsächlich so war, ob nicht eine ‘sie’ dahintersteckte, wenn er fast jeden Abend so spät nach Hause kam.
Geschieden, betrunken am Arbeitsplatz, gekündigt und entwurzelt. Wie ein Unwetter war es auf ihn herniedergeprasselt. Nun prasselte es wieder, auch wenn es nur Regen war.
Nach seiner Kündigung hatte er es nie fuer längere Zeit auf einem Job ausgehalten. Sie konnten ihn nicht mehr herumkommandieren. Schluss jetzt. Auch seine Frau besass dieses Talent.
Horst hatte sich dann eine Gitarre gekauft und versucht den Passanten etwas vorzusingen. Es funktionierte nicht. Während sie um andere seiner Art einen grossen Kreis bildeten und zuhörten , hatten sie um ihn nur einen grossen Bogen geschlagen und waren weitergegangen.
Horst hörte, wie ein Wagen anhielt. Menschenstimmen drangen durch das Rauschen des Regens,
Schritte erklangen. Es waren mindestens drei Männer. Horst verhielt sich still, als sie an ihm vorbeigingen. Eine Tür klappte. Die Stimmen gingen im Regen unter.
Zweimal hatte er Marta gesehen, als sie aus dem Bahnhof kam und in die Fussgängerzone ging. Er war sicher, dass sie ihn erkannt hatte, als er mit ausgestreckter Hand auf Passanten zuging und sie um eine Mark bat. Sie hatte jedoch so getan, als sei er Luft und er hatte sich nicht getraut, sie anzusprechen. Wie hätte sie wohl reagiert, wenn er auf sie zugegangen wäre um zu fragen: “Haste mal ne Mark fuer mich?”
Frauen. Wenn man nicht so spurt wie sie wollen, dann ist man geliefert. Mit Egon war es anders. Hatte seine Frau mit ihm jemals eine Flasche Wermut geteilt? Ja, mit Egon kam er zurecht. Der sass bei gutem Wetter auf der Mauer vor dem Hauptbahnhof, quatschte jeden an, der bei ihm vorbeikam, kannte jeden Polizisten und jeden Pitbull, der seinen Luden an der Leine an ihm vorbeizog.
Eine Alarmanlage schepperte, Türen knallten, Polizeisirenen heulten. Alles in wenigen Sekunden. Horst hörte, wie jemand keuchend an ihm vorbeilief. Ein schwerer Gegenstand flog in seine Kartons hinein. Schritte verklangen, die Sirene des Polizeiwagens marterte seine Ohren. Jemand rief: “Halt, bleiben Sie stehen, oder ich schiesse!” Ein Knall, dann Stille.
Horst verkroch sich in seinen Kartons, tastete mit einer Hand nach dem Objekt, das in sein Bett geflogen war. Es war eine Tasche, eine Plastiktasche. Horst richtete sich auf. Unter dem flackernden Schein der Leuchtstofflampe suchte er den Reissverschluss. Er zog ihn auf. Geld! Die Tasche war mit Banknoten gefüllt. Horst zog ein Bündel heraus und hielt es unter das Licht. Hundertmarkscheine. Einen davon zupfte er aus dem Bündel, steckte ihn in seine Hemdtasche. Mit fahrigen Handbewegungen legte Horst das andere Geld in die Tasche zurück und zog den Reissverschluss zu. Es dauerte noch einige Zeit, bevor er einschlief.
Als die Kirchturmuhr sechs Schlaege dröhnte, machte Horst sich daran, sein Bett zusammenzupacken. Dann ging er auf die Strasse hinaus zur nächsten Pfütze und wusch sein Gesicht. Als erstes packte er die Plastiktüte mit seinen perönlichen Utensilien, dann die Tasche mit dem Geld in den Einkaufswagen. Sein Bett legte er oben drauf. Er sah sich noch einmal um, vergewisserte sich, dass der Eingang sauber war. Er wollte niemanden Anlass zu klagen geben. Langsam schob er den quietschenden Einkaufswagen auf den Hauptbahnhof zu, vorbei an emsigen Zeitungsfahrern, die ihre Morgenzeitungen zu den Bahnhofständen karrten, vorbei an Reisenden, die Koffer auf Rädern hinter sich herziehend zu ihren Zügen hasteten. Der Tresen an der Bahnhofskneipe war schon mit einem harten Kern von Säufern besetzt.
Horst fand ein Fünfmarkstück in seiner Hosentasche und steuerte auf die Schliessfächer zu. Dort verstaute er die Tasche mit dem Geld. So, heute war e r dran mit ausgeben. Er ging zur Kneipe zurueck und kaufte eine Flasche Wermut, zog den Wagen mit sich zum Portal auf der anderen Seite des Bahnhofs. Egon sah er schon von weitem. Er sass auf der Mauer und unterhielt sich mit ein paar Zuspätgekommenen. Horst verzog sein unrasiertes Gesicht zu einem Grinsen und winkte mit der Flasche.
Nessun commento:
Posta un commento