Krimskrams
Von Klaus Eylmann
Zu
laut! Der Mann auf dem Podium bellte seine Worte hinaus. Zu hell! Die
Sonne warf grelles Licht auf Schneiders Unterlagen. Der, von Beruf
Kriminalkommissar, hatte Mühe, dem Vortrag zu folgen. In seinem Kopf
wütete ein Trommler-Pfeifer Chor. Mit halb geschlossenen Augen
beobachtete er, wie der Adamsapfel des vortragenden Psychologen auf
und ab hüpfte. Am Abend zuvor hatten Kollegen und er nach einer
Abteilungsfete noch ein paar Bier bei Lehmitz auf der Reeperbahn
getrunken, von denen Schneiders Bürogefährte Udo Schmitz sich
anscheinend noch nicht erholt hatte. Diesen Morgen war er nicht zum
Dienst erschienen.
„Das
Gebiet der Gefühle oder Emotionen ist unübersehbar und theoretisch
psychologisch noch vollkommen unbewältigt. Das schrieb Charlotte
Bühler in den sechziger Jahren.“ Dröhnende Wörter zogen wie
feindliche Flugzeuge über Schneider hinweg. Er hatte sich in der
letzten Reihe verschanzt und blickte unter halb geschlossenen
Augenlidern durch das Fenster hinter dem Podium auf das
gegenüberliegende Gebäude, schreckte hoch, als jemand neben ihm
eine Seite der Dokumentation umblätterte.
„Inzwischen
sind wir so weit, dass wir Emotionen durch gezielte Werbung
hervorrufen, beeinflussen und verstärken können.“ Schneider nahm
es teilnahmslos zur Kenntnis. Auch, dass ein Mann aus dem
gegenüberliegenden Gebäude fiel. Rufe der Nachbarn fokussierten
seine Sinne. Der Stuhl krachte auf den Boden, als er sich ungelenk
erhob. Schneider griff nach den Papieren und verließ den Saal.
Wohltuende
Stille, mattglänzendes Linoleum unter gedämpftem Licht. Schneider
schlurfte über den Korridor, hielt sich die Treppe hinuntersteigend
am Geländer fest, betrat sein Büro, stieß auf Udo, der von seinem
Schreibtisch zu ihm herüberstarrte und stöhnte: „Ich bin immer
noch knülle.“
„Gerade
ist jemand auf der anderen Straßenseite aus dem Fenster gefallen.
Sehen wir mal nach“, nuschelte Schneider.
„Du
bist wohl auch noch nicht ganz da.“ Udo rieb sich die Augen.
„Komm
schon“, brummte Schneider. Gemeinsam stolperten sie die Stufen
hinab, bewegten sich aus dem Eingang des Polizeigebäudes und sahen
einem Krankenwagen hinterher.
„Keine
Sirene. Dann ist er tot“, konstatierte Udo. Es regnete. Wolken
schoben sich über den Himmel.
Schneider
blieb einen Augenblick stehen, blickte zum zerbrochenen Fenster
hinauf und rieb sich den Hals. „Und jetzt da hoch.“
Oben
im Treppenhaus standen junge Frauen und Männer in T-Shirts und
Jeans, die durcheinander redeten und sich verstört ansahen.
Schneider
zückte seinen Ausweis. „Kriminalpolizei. Was ist passiert?“
„Er
hat sich als Testobjekt zur Verfügung gestellt“, stotterte einer
der jungen Leute.
„Wer?“,
fragte Udo.
„Doktor
Heinemann. Unser Boss. Er hat sich die Oculos Rift aufgesetzt.“
„Die
was?“ Schneider sah fragend auf Udo. Der schüttelte den Kopf.
„Na,
die VR-Brille.“
„VR?“
„Virtual
Reality. Wir versuchen, Werbung in 3-D Computer-Spielen
unterzubringen, weil wir davon überzeugt sind, dass sie in dieser
Art von Spielen einen höheren Wirkungsgrad besitzt.“
„Sie
glauben gar nicht, wie sich das anfühlt, wenn Sie die Brille
tragen“, bemerkte jemand. „Sie stecken mitten in der Handlung.“
„Und
was hat das damit zu tun, dass der Doktor, wie heißt er noch
gleich?“
„Heinemann“.
Der
Doktor Heinemann sich aus dem Fenster gestürzt hat?“
„Wir
hatten“, so meldete sich ein anderer. „Wir hatten ein Spiel
entwickelt, in denen Verfolgungsjagden mit dem Motorrad stattfinden
und die Werbung einer Fluggesellschaft mit dem Slogan eingebaut: ‚Nur
Fliegen ist schöner‘. Und dazu eine Flugszene. Das hat Doktor
Heinemann wohl zu wörtlich genommen.“
Eine
junge Frau fügte hinzu: „Die Werbung wirkt über die Oculus und
deren Programmierung direkt auf das Emotionszentrum des Spielers ein,
jazzt Amygdala und Hippocampus hoch.“
„Das
macht es ja für die Industrie so interessant“, warf ein Dritter
ein.
„Soso“,
meinte Schneider und zu Udo. „Ruf mal zwei Kollegen herbei, die
diesen Ort absperren und nimm die Personalien auf.“
„Danach“,
sagte er beim Weggehen, „können Sie nach Haus gehen. Sie werden
von uns hören.“ Schneider ging ins Büro zurück, sah auf die Uhr.
Mittagspause. Er machte sich auf den Heimweg.
Emma, Schneiders Frau,
wartete schon mit dem Essen auf ihn.
„Bei
uns war wieder was los“, meinte er, als er sich an den Tisch setzte
und die Gläser füllte. „Und wie war´s bei dir?“
„Wenn
du im Supermarkt an der Kasse sitzt, erlebst du nicht viel
Aufregendes.“
„Hm“,
meinte Schneider. „Hast du schon mal was vom Hippocampus und der
Amygdala gehört?“
„Die
kennt doch jedes Kind.“
„Was?“
„Klar
doch. Aus Disney Filmen.“
Bevor
Schneider ansetzen konnte, prustete sie los. „Schon gut. Sind Teile
des Hirns, in denen Emotionen entstehen.“
„Und
wieso weiß ich das nicht?“, fragte sich Schneider verblüfft.
„Ich
arbeite nur halbtags. Das muss ich kompensieren.“ Emma sah
zufrieden aus, als sie das sagte und hinzufügte: „Und du kommst
anscheinend zu nichts anderem als Verbrecher zu jagen.“
Lag
ein Vorwurf in Emmas Gesichtsausdruck? Nie und nimmer. Sie lächelte
wie eine Cheshire Katze. Doch wie kam es, fragte sich Schneider, dass
sie so zufrieden war? Vor wenigen Wochen noch hatte sie traurige
Liebeslieder gesungen und sich auf der Ukulele begleitet. Und nun saß
sie da wie ein in sich ruhender Buddha. Hatte sie etwa einen anderen?
Schneider verscheuchte den Gedanken.
„Da
ist was dran“, gab er zu. „Ich bin heute aus einem Vortrag
ausgebüxt.“
Im
Büro fand er: „Udo, wir sollten zwei Techniker nach drüben
schicken, welche die Apparatur untersuchen.“
„Mir
ist heute aufgefallen, wie ignorant wir doch sind“, meinte der.
„Wenn wir unser Wissen über diesen technologischen Krimskrams
nicht vertiefen, geraten wir ins Hintertreffen.“
Schneider
verzog sein Gesicht. „Das ändert sich doch ständig. Wenn du heute
eine Wurst kaufst, ist sie morgen schon von gestern. Da kommen wir
doch gar nicht hinterher. Mit Ausnahme von Emma, die hat Zeit, sich
für alles Mögliche zu interessieren.“
Udos
Gesicht blieb ausdruckslos. „Übrigens fehlt ein Teil: der
VR-Viewer.“
„Der
was?“
„Das
Sichtgerät ist mit dem Toten abtransportiert worden“, sagte Udo.
„Hat
er das noch auf dem Kopf gehabt?“
„Klar
doch, während des Fluges aus dem Fenster hat er das nicht
abgenommen.“
„Hätten
doch die Sanitäter später tun können.“
Udo
griff nach dem Hörer. „Ich ruf mal an.“
„Sie
schicken es morgen früh vorbei.“ Udo legte wieder auf.
Am
nächsten Morgen gingen die Techniker in das gegenüberliegende
Gebäude.
„Ich
habe noch gar nicht in die Zeitung gesehen“, murmelte Udo und zog
die „Bild“ aus der Aktentasche, überflog die Schlagzeilen,
runzelte die Stirn, warf das Blatt über den Tisch und erhob sich.
„Ich
gehe mal rüber und rufe die Techniker zurück. Heinemann hat einen
Abschiedsbrief hinterlassen.“
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