Coversong Roads

domenica, novembre 16, 2025

Kurzgeschichte: Donnerberg (Eine Horsdorp Story)

 

 Wie schlimm musste es um sie bestellt sein, dass sie sich darauf eingelassen hatte, mit Otto zur Sternwarte hochzufahren? Otto war Busfahrer. Busfahrer. Man stelle sich das vor. Anna war aus gutem Hause. Ihr war klar, in Horsdorp würde sie nie den Richtigen finden. Und wenn sie sich im Schminkspiegel betrachtete, wusste sie auch warum. Hastig schob sie ihn zur Seite, blickte aus dem Wagenfenster in die Schlucht hinab. Sie fühlte sich unwohl.

  “Anna, Sternwarten werden grundsätzlich auf einem Berg errichtet, damit sie erstens nicht dem Streulicht der Städte ausgesetzt sind und zweitens atmosphärische Turbulenzen vermeiden. Aber selbst das reicht nicht aus. Deswegen werden die großen Spiegel mit adaptiver Optik….”

  “Fahre bitte nicht so schnell! Bei mir dreht sich schon alles im Kreis!”

  “Ich möchte oben ankommen, bevor es ganz dunkel wird; dann fängt nämlich für die Astronomen die Arbeit an. Zu der Zeit kommen wir nicht mehr rein, und wir haben erst knapp die Hälfte der Strecke geschafft.”   

Wieso saß sie in dem kleinen Ford neben dem Busfahrer? Anna verstand sich und die Welt nicht mehr. Der Mann hatte sie wieder rumgekriegt, trotz des Fiaskos in ihrem Vorgarten, als er sie in einer kalten Nacht mit seinem Teleskop und dem was man dadurch betrachten konnte, gelangweilt hatte.

  Schweigend starrten sie nach vorn, auf die schroffen Felswände zur Linken, die schmale asphaltierte Straße vor ihnen, die Leere zur Rechten. Dort gab es kein Schutzgeländer.

  Der Wagen wurde langsamer.

  “So langsam brauchst du nun auch wieder nicht zu fahren.”

  “Anna, das bin nicht ich. Das ist der Wagen.”

  Der Motor fing an zu stottern. Stockend quälte sich das Fahrzeug die Serpentine hoch. Vor ihnen tauchte eine in den Fels gehauene Haltebucht auf. Otto lenkte das Gefährt auf den Platz, hielt an und schaltete den Motor aus.

  “Das kann ja heiter werden,” brummte Otto und blickte Anna an.

  “Was machen wir nun?”

  “Wir warten. Vielleicht hat sich Motor überhitzt.“

  Nach zehn Minuten versuchte Otto das Auto wieder in Gang zu setzen. Ohne Erfolg: der Motor sprang nicht an.

  “Muss die Elektronik sein. Es ist zu dunkel, als dass ich etwas erkennen könnte. Mal sehen, ob es hier eine Sprechanlage gibt.”

  Otto stieg aus dem Wagen und sah sich um.

  “Nichts. Ich schlage vor, wir gehen zu Fuß weiter, oder willst du die Nacht im Wagen verbringen? Es kann ziemlich kalt werden.”

  Anna kletterte aus dem Fahrzeug und zog fröstelnd ihre Strickjacke über der Brust zusammen.

  Die schmale Sichel des Mondes schob sich über den Grat und tauchte die sich den Berg hinaufwindende Straße in sein diffuses Licht. Dunkel und geisterhaft hoben sich zerklüftete, schroffe Felsen gegen den Sternenhimmel ab.

  Otto schritt zügig aus. “Ist dieser Himmel nicht herrlich? Sieh mal. Hier haben wir den…”

  “Keine Sternbilder, Otto! Ich bin dafür nicht in Stimmung. Wie lange dauert es denn noch?”

  “Keine Sorge. Bald haben wir es geschafft. Übrigens, wenn wir den Abhang rechts von der Straße hinunterstürzten, würden wir zur gleichen Zeit unten ankommen. Dass wir unterschiedlich wiegen, spielt dabei überhaupt keine Rolle. Galilei war der erste, der das experimentell belegt hatte.

Daraufhin hatte Isaac Newton….”

  “Hör schon auf. Ich will das nicht mehr hören.”

  Anna lehnte sich erschöpft gegen die Felswand. Ihr war zum Heulen zumute.

  Otto drehte sich um, ging zu ihr zurück und legte einen Arm um ihre Schulter.

  “Entschuldige. Ich wollte dich etwas ablenken. Nur Mut, wenn wir um den Berg gehen sind wir da.”

  Otto hakte Anna unter und verlangsamte sein Tempo. Stumm gingen sie die letzten wenigen hundert Meter um den Berg herum, dann tauchte vor ihnen ein steinernes Ungetüm, die riesige Kuppel der Sternwarte auf. Otto hielt an und holte tief Luft.

  “Geschafft. Suchen wir den Eingang.” 

   Langsam näherten sie sich dem Kuppelgebäude. Ihre beiden Figuren schienen winzig im Vergleich zum kolossalen Monument, welches der Menschheit mit vielen anderen hochgelegenen Observatorien einen Blick in den Kosmos erlaubte. Eine rötliche Lampe leuchtete an der Mauer.

  “Dort muss es sein.” Otto zog Anna mit sich. Die große Stahltür war verschlossen. Otto drückte auf den Klingelknopf unter der Sprechanlage. Nichts rührte sich. Otto und Anna blieben vor der Tür stehen und versuchten es noch einmal.

  Plötzlich erschütterte ein gewaltiges Dröhnen den Bau. Es kam vom Dach der Sternwarte. Der Gigant über ihnen war zu Leben erwacht. Anna spürte, wie die Wand des Gebäudes vibrierte und klammerte sich an Otto.

  “Keine Angst, Anna. Über uns dreht sich die Kuppel. Sie richten das Teleskop neu aus. Nachts läuft ein Computerprogramm, welches in vorgegebenen Zeitabständen Kuppel und Teleskop neu einstellt.”

  Otto bemerkte ein paar Meter neben der Eingangstür ein Rost, welches im Boden eingelassen war und ging dorthin. Warmluft strömte heraus. Er winkte Anna heran. Sie setzten sich beide auf den Boden. Otto zog seine Jacke aus und legte sie um Annas Schultern. Sie lächelte gequält. Wärme umhüllte beide wie ein Schleier, machte sie müde und bald darauf lagen sie auf dem Boden und schliefen. Bisweilen rumpelte es, wenn die Kuppel sich drehte; dann schreckte Anna hoch, öffnete die Augen, blickte auf die  funkelnden Sterne. Sie waren so weit entfernt, losgelöst vom grauen und zugleich hektischen Alltag auf der Erde. Ruhe und Frieden waren die Wörter, die ihr einfielen, als sie zum breiten Band der Milchstraße emporblickte. Die Sterne schienen sie zu fragen: Warum hast du uns nicht schon früher betrachtet? Warum hast du deine Sorgen nicht schon eher in den Kosmos geschickt?  Ohne diese findest du eher eine Antwort auf deine Fragen. Wir sind immer hier, wenn du uns brauchst.  

  Anna drehte sich auf die Seite und blickte zu Otto hinüber. Er sah so unschuldig aus, wenn er schlief. Anna lächelte. Nun, er sah auch nicht anders aus, wenn er wach war. Es war doch eigenartig, dass sie gerade mit ihm diese seltsamen Dinge erlebte. Anna hatte sich noch nie so gelassen gefühlt, wie in diesem Augenblick.

  Sie wachte auf, als sie Stimmen vernahm, sah, dass der Morgen graute. Einige Männer kamen aus dem Eingang und gingen auf einen Parkplatz zu. Sie diskutierten erregt. Anna hörte Worte wie ‘Kosmisches Messageboard’ und  ‘rückwärtslaufender Counter’.  Sie rüttelte Otto aus dem Schlaf. Otto richtete sich auf, rieb sich die Augen, erhob sich und sah zum Eingang. Die Tür war halb geöffnet.

  “Die machen Feierabend. Komm, gehen wir hinein.”

  Ohne das riesige Spiegelteleskop im Kuppelbau eines Blickes zu würdigen, liefen sie auf die gegenüberliegende Wand der Sternwarte zu. Dort war ein Büro. Es glich einem angeklebten Schwalbennest. Otto riss die Tür auf.

  “Professor Zimmermann, Gott sei Dank, dass Sie noch da sind.”

  Der Mann im Hintergrund sah von dem Bildschirm hoch.

  “Otto, ich hatte Sie gestern erwartet, doch nicht heute so früh am morgen.”

  “Anna, das ist Professor Zimmermann, der Leiter der Sternwarte. Er hält auch den Astronomiekurs an der Volkshochschule in Dünkelskirchen ab.” Dann begann Otto, von ihrem Abenteuer zu erzählen.

  Zimmermann schenkte Kaffee nach. “Anna, ich wünschte, wir hätten uns unter günstigeren Umständen kennengelernt. Ich hätte Ihnen so gern unser Observatorium gezeigt, aber ich muss jetzt Schluss machen. Kommen Sie, ich nehme Sie beide mit und fahre Sie ins Dorf.”

  Zimmermann  schaltete seinen Computer aus und zog seine Jacke über.     

  Wehmütig blickte Otto zu seinem Ford hinüber, als sie an der Haltebucht vorbeikamen.

Ihr Wagen, Otto? Vielleicht hätten Sie besser Ihren Bus genommen,” lachte Zimmermann.

Warum waren die Leute heute morgen so erregt, als sie die Sternwarte verließen?” fragte Anna.

Ich hörte Worte wie ‘Kosmisches Messageboard’ und ‘rückwärtslaufender Counter’.”

  Zimmermann schwieg eine Weile, dann schüttelte er den Kopf, als ob er sich aus einer Trance befreien wollte.

  “Wir sind alle schrecklich aufgeregt. Die Programme unserer Sternwarte am Donnerberg laufen in Zusammenarbeit mit Observatorien in aller Welt. Zur Zeit sind wir auf der Suche nach Planeten, die um andere Sterne kreisen. Sterne mit Planeten wackeln, wenn Planeten um sie herumziehen. Man kann das anhand ihrer Spektralverschiebung erkennen. Andere Sternwarten observieren Pulsare, also sich schnell drehende Neutronensternen, die Impulse im Sekundenbereich aussenden.”

  Zimmermann hielt einen Augenblick inne. Dann fuhr er fort: “Nun glauben einige von uns anhand von Computeranalysen herausgefunden zu haben, dass die Strahlungen, die von den Sternen aus bestimmten Zonen kommen, Muster aufweisen, die auf Signale  hindeuten. - Kein Wunder, dass wir aufgeregt sind. Das kann unsere Kosmologie über den Haufen werfen.”

  “Donnerwetter. Das hört sich ja wie Science Fiction an, Professor Zimmermann,” meinte Otto erregt. “Werden Sie darüber in Ihrem Astronomiekurs berichten?”

  “Solange die Messergebnisse nicht in einer der Wissenschaftszeitschriften wie ‘Nature’ oder ‘Science’ veröffentlicht worden sind, natürlich nicht. Hier ist der Rote Ochse, meine Herrschaften. Ich lade Sie hier ab, wenn es recht ist.”

  Zimmermann hielt seinen Wagen vor dem Gasthof an. Anna und Otto stiegen aus, verabschiedeten sich von dem Professor und sahen sich schweigend an. Dann lächelte Anna und hakte Otto unter.

  “Komm Otto, fahren wir zu mir nach Hause. Ich glaube, eine warme Dusche wird uns gut tun.”  


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