Zischend schlossen sich Türen. Der Bus fuhr an. Eine alte Frau hielt sich am Haltegriff fest, als sie die Stufen zum Gang emporstieg. Der einzige Fahrgast, zugestiegen an der letzten Station vor der Endstation.
Es war kalt. Der Bus ratterte eine von Kastanienbäumen umsäumte Landstraße entlang. Die Frau blickte zum Fenster hinaus. Neben der Straße floss die Wümme dahin, behäbig, dann von der Fahrbahn überquert, durchschnitt die Landschaft, verlor sich am Horizont. Das gelbe Schild mit der Aufschritt Horsdorp an der Wümme, Kreis Dünkelskirchen in Sicht: der Bus verringerte sein Tempo, fuhr am Autohändler so wie an der Apotheke vorbei und hielt vor dem Gasthof „Zum roten Ochsen“. Endstation.
Die Frau stieg unbeholfen aus dem Fahrzeug, während der Fahrer das Richtungsschild austauschte. Danach kletterte auch er aus dem Bus und ging in die Gaststube. Durch die Butzenscheiben drang gedämpftes Tageslicht, warf Schatten der Fensterkreuze auf den Tresen, hinter dem eine Frau wirtschaftete. Mürrisch wandte sie sich um.
Der Fahrer setzte sich an einen Tisch. Er war der einzige Gast.
„Guten Tag, Anna. Einen Kaffee bitte. Wie geht’s denn so?“
„Frag mich nicht, Otto. Frag mich nicht.“ Anna goss den Kaffee in eine Tasse, nahm ein Stück Kuchen aus der Glasvitrine.
„Trauerst du immer noch deinem Ex hinterher? Das solltest du dir abgewöhnen. Denk an was anderes, schaff dir ein paar Hobbies an.“ - Anna schien schlecht gelaunt, als sie die Tasse mit dem Kaffee, den Teller mit dem Kuchen vor ihn auf den Tisch stellte. Ihr Gesicht hellte sich auch nicht auf, als er aufstand und seinen Arm um sie legte.
„Anna, du weißt, auch ich bin allein. Aber ich habe immer etwas um die Ohren. Der Astronomiekurs an der Volkshochschule von Dünkelskirchen. Interessant, und man lernt nette Leute kennen. So etwas solltest du auch machen.“
„Zwei mal die Woche dreißig Kilometer mit dem Bus. Das hat mir gerade noch gefehlt.“
„Und,“ Anna löste sich aus seinem Griff. „Und außerdem habe ich keine Zeit. Auch wenn hier nur am Wochenende Betrieb ist, wir machen erst gegen Mitternacht Schluss. Wenn ich nach Hause kommte, bin ich so aufgedreht, daß es mir schwerfällt einzuschlafen. Der Kuchen ist von mir. Brauchst du nicht zu bezahlen.
„Danke,“ erwiderte Otto mit vollem Mund. „Du bist so nett zu mir. Was hälst du davon, wenn ich dich mal an deinem freuen Abend besuche?“
„Ich weiß nicht recht.“
Sie sagt nicht nein, dachte Otto.
„Nun sag schon ja. Für mich sind dreißig Kilometer ein Klacks. Ich bin Autofahren gewohnt.“
Anna blickte Otto prüfend ins Gesicht.
„Nun gut, dann sagen wir nächsten Dienstag gegen sieben Uhr abends. Ich schreibe dir noch meine Adresse auf.“ Anna zog einen Kugelschreiber aus der Schürzentasche, griff nach einem Bierdeckel.
„Hier ist sie. Du brauchst zu Hause nichts zu essen. Ich werde dir etwas kochen.“
Otto steckte den Bierdeckel ein und sah auf die Uhr. „Ich muss los, Anna, und noch mal vielen Dank für den Kuchen.“ Anna hörte noch, wie der Bus sich Richtung Dünkelskirchen entfernte. Wieder allein in der Gaststube, mit ihren Gedanken.
Otto strahlte Zuverlässigkeit aus. Kein Beau, aber wer war das noch mit fünfzig? So alt war er wohl, und sie selbst war ja auch keine Schönheit. Ihr schien, als sei Otto jemand, mit dem man sich bei einem Glas Wein angenehm unterhalten, der die Spinnweben ihrer trüben Gedanken durch seine Anwesenheit wegpusten könnte.
Wie üblich kam Otto vorbei, wenn sein Bus in Horsdorp vor dem Roten Ochsen auf Fahrgäste wartete. Er sprach mit Anna über dieses und jenes, nur nicht über seinen bevorstehenden Besuch, bis Anna es nicht mehr aushielt: „Otto, du kommst doch am Dienstag?“
„Natürlich. Ich freue mich schon darauf. Bei euch ist es so schön dunkel.“
Was soll denn das nun heißen?, fragte sich Anna.
Dienstag. Gaststättenruhe. Annas freier Tag. Sie hatte einige Stunden damit verbracht, das Abendessen zuzubereiten.
Als Otto aus seinem kleinen Ford stieg und mit einem Strauß gelber Rosen auf Annas Haus zuging, war es dunkel geworden. Die Tür öffnete sich, als ob Anna hinter der Gardine auf ihn gewartet hätte.
„Otto, komm herein. Und was für schöne Rosen, die werde ich gleich ins Wasser stellen. Das wäre doch wirklich nicht nötig gewesen.“ Anna vergrub ihr Gesicht in den Blumen.
„Es ist verflucht kalt draußen. Anna, was duftet denn hier so verführerisch?“
„Boef a la Mode.“
„Boef was?“
Otto nahm im Wohnzimmer am Eßtisch Platz, während Anna auftrug.
Sie setzte sich ihm gegenüber und schenkte sein Glas voll.
„Prost Anna. Was ist das für ein Roter?“ Otto griff nach der Flasche und las: „DOC. DOC ist immer gut. Da hast du was gutes ausgesucht. Und das Boef, wie es duftet!“ Otto füllte seinen Teller, schlang das Essen hinunte und sprang von seinem Sitz hoch.
„Also, ich habe eine Überraschung. Ich muss nur schnell zum Wagen. Bin gleich wieder zurück.“
Anna blickte zum Fenster hinaus. Es war zu dunkel, um zu erkennen, das Otto anschleppte. Er setzte seine Last im Vorgarten ab.
Anna riss die Tür auf. „Otto, was hast du da?“
„Komm her, und sieh dir das an, aber zieh dir was über. Es ist kalt hier draußen!“
Anna zog einen Mantel an und ging zu Otto hinaus.
„Sieh dir das Teleskop an. Ist es nicht ein Prachtstück? Es hat einen 25 cm Spiegel. Ich habe vor, mir von hier aus die Sterne anzusehen. In Dünkelskirchen ist es einfach zu hell, da sieht man nicht viel. Und in dieser kalten, klaren Nacht sind die Sterne deutlich zu erkennen.“
Anna, stell die Stühle auf, während ich das Teleskop richte.“
Benommen baute Anna die beiden Klapptstühle auf, die Otte aus dem Kofferraum seines Wagens gezogen und auf den Rasen gelegt hatte.
Otte setzte sich, justierte das Teleskop und erhob sich.
„So, ich habe das Fernrohr auf den Mond gerichtet. Setz dich und sieh mal durch das Okular. Ist es nicht wunderbar, wie deutlich Krater und Erhebungen zu sehen sind?“
Anna blickte durch das Teleskop, sah die Krater Tycho, Langrenius und die Mare Nubium, Crisium. Sie sagten ihr nichts.
„Na, was meinst du Anna? Ist das nicht phantastisch? Und sieh dir den Himmel an. Für die Sternbilder braucht man nicht unbedingt ein Teleskop.“ Otto setzt sich auf den Stuhl neben sie und zeigte nach oben.
Im Norden siehst du den Großen Bären und rechts daneben den kleinen. Noch weiter rechts haben wir den Drachen und das Sternbild des Herkules. Siehst du die vier Sterne dort, die ein Rechteck bilden, von dem aus drei andere Sterne nach oben zeigen? Das ist der Kleine Bär oder Ursa Minor, dessen hellste Sterne den Kleinen Wagen bilden, wo drei Sterne wie eine Deichsel aussehen, und der oberste, der besonders hell leuchtet, ist der Polarstern. Wenn du den siehst, weißt du, wo Norden liegt.
Das Sternbild rechts davon ist der Drachen. Drei Sterne des Drachens, die wie ein Dreieck aussehen, haben einen Nachbarstern, der heißt Kuma. Sieh dir den einmal durch das Teleskop an. Warte, ich stelle es dir ein.“ Otto kniete sich neben Änna auf den Boden und machte sich am Fernrohr zu schaffen. „So, sieh jetzt mal durch.“ Anna starrte in das Okular.
„Nun siehst du, Anna. Kuma besteht in Wirklichkeit aus zwei nebeneinanderliegenden Sternen. Ein Doppelstern! Ist das nicht aufregend?“
Anna sagte nichts und zitterte vor Kälte. Was sollte das? In zehn Meter Entfernung lag ihr gemütliches Wohnzimmer, standen Kerzen und ein Valpolicella auf dem Tisch. Und nun? Die Ereignisse dieser Nacht hatten ihre eigene Dynamik entwickelt.
„In der Volkshochschule haben wir ja nicht nur die Sternenbilder kennengelernt, sondern auch viel über die Geschichte der Astronomie gehört. So hat zum Beispiel Galilei vier Monde gesehen, die den Jupiter umkreisen. Die Erde mit nur einem Mond konnte nicht der Mittelpunkt des Universums sein, wie damals angenommen wurde. Später hatte Johannes Kepler entdeckt, dass Planetenbahnen elliptisch sind. Darüber hinaus wurden wir auch in die Astrophysik eingeführt. Sagt dir der Begriff Herzsprung-Russel Diagram etwas?
„Nein, Otto. Das sagt mir überhaupt nichts. Kannst du mir das nicht im Haus erklären? Mir wird kalt.“
„Später,“ meinte Otto und hantierte am Teleskop. „Ich stelle es jetzt auf die Zone zwischen Mars und Jupiter ein. Dort haben wir den Asterioiden-Gürtel. Etwa eintausendeinhundert Asterioiden schwirren dort herum. - Lass mal sehen, ich glaube jetzt hab ich´s. Ja, und etwa die Hälfte ist katalogisiert. Stelle dir mal vor, ich finde einen, der noch keinen Namen hat. Den können wir nach dir oder nach mir benennen. Was meinst du dazu, Anna?“
Ottos Blick löste sich vom Teleskop. Er sah zur Seite. Der zweite Stuhl war leer. Otto schüttelte den Kopf und versuchte einige Asterioiden zu erkennen. Es gelang ihm nicht. Sein Fernrohr war nicht stark genug. Er stellte es auf den Mars ein, der hellrötlich am Nachhimmel stand.
Er dachte an die geplante Marsexpedition der NASA; an die zweihundertfünfundzwanzig Millionen Kilometer, die zurückzulegen waren, an die zweihundersiebzig Tage, die eine Besatzung im Raumschiff verbringen müsste, und das wegen ein paar Bakterien, welche die NASA dort zu finden hoffte.
Nun, es ging auch um eine mögliche Kolonisierung. Otto wäre gern dabei gewesen, doch er musste seinen Bus weiterfahren. Wenn er in einer Milliarde von Jahren in der Zukunft leben würde, dann wäre es einfacher. Dann wären sie gezwungen, in den Weltraum weiter vorzudringen, weil sich die Sonne zu einem roten Riesen aufblähen und alles auf der Erde verbrennen würde. Aber nun ja, dachte Otto resigniert, nun saß er des nachts in Annas Vorgarten, blickte durch das Teleskop, und am nächsten Morgen würde er wieder seinen Bus lenken. Zum Glück brauchte er erst nachmittags seinen Dienst antreten. Wo war Anna überhaupt? War sie schlafen gegangen? Ihm wurde kalt.
Otto erhob sich, trug die Stühle und das Teleskop zum Wagen zurück. Der Schein einer Straßenlaterne spiegelte sich auf der vereisten Fahrbahn. Otto blieb unschlüssig vor dem Wagen stehen, dann ging er in den Vorgarten zurück und auf das Haus zu. Zögernd klopfte er ein paar mal an die Tür. Sie öffnete sich nicht. Otto versuchte es noch einmal. Die Tür blieb verschlossen. Er schaute auf des Fenster des Wohnzimmers. Das Zimmer war dunkel.
Habe da wohl was falsch gemacht, dachte er, blickte auf die Uhr. Kurz nach Mitternacht – und stieg in seinen kleinen Wagen, mit dem er in quälender Langsamkeit über die vereiste Landstraße nach Dünkelskirchen zurückfuhr.
Später sprachen sie nicht über diese Nacht. Sie redeten nicht mehr miteinander. Wann immer Otto im Roten Ochsen erschien, bestellte er seinen Kaffee. Anna knallte die Tasse auf den Tisch, kassierte und verschwand hinter dem Tresen.
Nessun commento:
Posta un commento