Wie
schlimm musste es um sie bestellt sein, dass sie sich darauf
eingelassen hatte, mit Otto zur Sternwarte hochzufahren? Otto war
Busfahrer. Busfahrer. Man stelle sich das vor. Anna war aus gutem
Hause. Ihr war klar, in Horsdorp würde sie nie den Richtigen finden.
Und wenn sie sich im Schminkspiegel betrachtete, wusste sie auch
warum. Hastig schob sie ihn zur Seite, blickte aus dem Wagenfenster
in die Schlucht hinab. Sie fühlte sich unwohl.
“Anna,
Sternwarten werden grundsätzlich auf einem Berg errichtet, damit sie
erstens nicht dem Streulicht der Städte ausgesetzt sind und zweitens
atmosphärische Turbulenzen vermeiden. Aber selbst das reicht nicht
aus. Deswegen werden die großen Spiegel mit adaptiver Optik….”
“Fahre
bitte nicht so schnell! Bei mir dreht sich schon alles im Kreis!”
“Ich
möchte oben ankommen, bevor es ganz dunkel wird; dann fängt nämlich
für die Astronomen die Arbeit an. Zu der Zeit kommen wir nicht mehr
rein, und wir haben erst knapp die Hälfte der Strecke geschafft.”
Wieso
saß sie in dem kleinen Ford neben dem Busfahrer? Anna verstand sich
und die Welt nicht mehr. Der Mann hatte sie wieder rumgekriegt, trotz
des Fiaskos in ihrem Vorgarten, als er sie in einer kalten Nacht mit
seinem Teleskop und dem was man dadurch betrachten konnte,
gelangweilt hatte.
Schweigend
starrten sie nach vorn, auf die schroffen Felswände zur Linken, die
schmale asphaltierte Straße vor ihnen, die Leere zur Rechten. Dort
gab es kein Schutzgeländer.
Der
Wagen wurde langsamer.
“So
langsam brauchst du nun auch wieder nicht zu fahren.”
“Anna,
das bin nicht ich. Das ist der Wagen.”
Der
Motor fing an zu stottern. Stockend quälte sich das Fahrzeug die
Serpentine hoch. Vor ihnen tauchte eine in den Fels gehauene
Haltebucht auf. Otto lenkte das Gefährt auf den Platz, hielt an und
schaltete den Motor aus.
“Das
kann ja heiter werden,” brummte Otto und blickte Anna an.
“Was
machen wir nun?”
“Wir
warten. Vielleicht hat sich Motor überhitzt.“
Nach
zehn Minuten versuchte Otto das Auto wieder in Gang zu setzen. Ohne
Erfolg: der Motor sprang nicht an.
“Muss
die Elektronik sein. Es ist zu dunkel, als dass ich etwas erkennen
könnte. Mal sehen, ob es hier eine Sprechanlage gibt.”
Otto
stieg aus dem Wagen und sah sich um.
“Nichts.
Ich schlage vor, wir gehen zu Fuß weiter, oder willst du die Nacht
im Wagen verbringen? Es kann ziemlich kalt werden.”
Anna
kletterte aus dem Fahrzeug und zog fröstelnd ihre Strickjacke über
der Brust zusammen.
Die
schmale Sichel des Mondes schob sich über den Grat und tauchte die
sich den Berg hinaufwindende Straße in sein diffuses Licht. Dunkel
und geisterhaft hoben sich zerklüftete, schroffe Felsen gegen den
Sternenhimmel ab.
Otto
schritt zügig aus. “Ist dieser Himmel nicht herrlich? Sieh mal.
Hier haben wir den…”
“Keine
Sternbilder, Otto! Ich bin dafür nicht in Stimmung. Wie lange dauert
es denn noch?”
“Keine
Sorge. Bald haben wir es geschafft. Übrigens, wenn wir den Abhang
rechts von der Straße hinunterstürzten, würden wir zur gleichen
Zeit unten ankommen. Dass wir unterschiedlich wiegen, spielt dabei
überhaupt keine Rolle. Galilei war der erste, der das experimentell
belegt hatte.
Daraufhin
hatte Isaac Newton….”
“Hör
schon auf. Ich will das nicht mehr hören.”
Anna
lehnte sich erschöpft gegen die Felswand. Ihr war zum Heulen zumute.
Otto
drehte sich um, ging zu ihr zurück und legte einen Arm um ihre
Schulter.
“Entschuldige.
Ich wollte dich etwas ablenken. Nur Mut, wenn wir um den Berg gehen
sind wir da.”
Otto
hakte Anna unter und verlangsamte sein Tempo. Stumm gingen sie die
letzten wenigen hundert Meter um den Berg herum, dann tauchte vor
ihnen ein steinernes Ungetüm, die riesige Kuppel der Sternwarte auf.
Otto hielt an und holte tief Luft.
“Geschafft.
Suchen wir den Eingang.”
Langsam
näherten sie sich dem Kuppelgebäude. Ihre beiden Figuren schienen
winzig im Vergleich zum kolossalen Monument, welches der Menschheit
mit vielen anderen hochgelegenen Observatorien einen Blick in den
Kosmos erlaubte. Eine rötliche Lampe leuchtete an der Mauer.
“Dort
muss es sein.” Otto zog Anna mit sich. Die große Stahltür war
verschlossen. Otto drückte auf den Klingelknopf unter der
Sprechanlage. Nichts rührte sich. Otto und Anna blieben vor der Tür
stehen und versuchten es noch einmal.
Plötzlich
erschütterte ein gewaltiges Dröhnen den Bau. Es kam vom Dach der
Sternwarte. Der Gigant über ihnen war zu Leben erwacht. Anna spürte,
wie die Wand des Gebäudes vibrierte und klammerte sich an Otto.
“Keine
Angst, Anna. Über uns dreht sich die Kuppel. Sie richten das
Teleskop neu aus. Nachts läuft ein Computerprogramm, welches in
vorgegebenen Zeitabständen Kuppel und Teleskop neu einstellt.”
Otto
bemerkte ein paar Meter neben der Eingangstür ein Rost, welches im
Boden eingelassen war und ging dorthin. Warmluft strömte heraus. Er
winkte Anna heran. Sie setzten sich beide auf den Boden. Otto zog
seine Jacke aus und legte sie um Annas Schultern. Sie lächelte
gequält. Wärme umhüllte beide wie ein Schleier, machte sie müde
und bald darauf lagen sie auf dem Boden und schliefen. Bisweilen
rumpelte es, wenn die Kuppel sich drehte; dann schreckte Anna hoch,
öffnete die Augen, blickte auf die funkelnden Sterne. Sie
waren so weit entfernt, losgelöst vom grauen und zugleich hektischen
Alltag auf der Erde. Ruhe und Frieden waren die Wörter, die ihr
einfielen, als sie zum breiten Band der Milchstraße emporblickte.
Die Sterne schienen sie zu fragen: Warum hast du uns nicht schon
früher betrachtet? Warum hast du deine Sorgen nicht schon eher in
den Kosmos geschickt? Ohne diese findest du eher eine Antwort
auf deine Fragen. Wir sind immer hier, wenn du uns brauchst.
Anna
drehte sich auf die Seite und blickte zu Otto hinüber. Er sah so
unschuldig aus, wenn er schlief. Anna lächelte. Nun, er sah auch
nicht anders aus, wenn er wach war. Es war doch eigenartig, dass sie
gerade mit ihm diese seltsamen Dinge erlebte. Anna hatte sich noch
nie so gelassen gefühlt, wie in diesem Augenblick.
Sie
wachte auf, als sie Stimmen vernahm, sah, dass der Morgen graute.
Einige Männer kamen aus dem Eingang und gingen auf einen Parkplatz
zu. Sie diskutierten erregt. Anna hörte Worte wie ‘Kosmisches
Messageboard’ und ‘rückwärtslaufender Counter’.
Sie rüttelte Otto aus dem Schlaf. Otto richtete sich auf, rieb sich
die Augen, erhob sich und sah zum Eingang. Die Tür war halb
geöffnet.
“Die
machen Feierabend. Komm, gehen wir hinein.”
Ohne
das riesige Spiegelteleskop im Kuppelbau eines Blickes zu würdigen,
liefen sie auf die gegenüberliegende Wand der Sternwarte zu. Dort
war ein Büro. Es glich einem angeklebten Schwalbennest. Otto riss
die Tür auf.
“Professor
Zimmermann, Gott sei Dank, dass Sie noch da sind.”
Der
Mann im Hintergrund sah von dem Bildschirm hoch.
“Otto,
ich hatte Sie gestern erwartet, doch nicht heute so früh am morgen.”
“Anna,
das ist Professor Zimmermann, der Leiter der Sternwarte. Er hält
auch den Astronomiekurs an der Volkshochschule in Dünkelskirchen
ab.” Dann begann Otto, von ihrem Abenteuer zu erzählen.
Zimmermann
schenkte Kaffee nach. “Anna, ich wünschte, wir hätten uns unter
günstigeren Umständen kennengelernt. Ich hätte Ihnen so gern unser
Observatorium gezeigt, aber ich muss jetzt Schluss machen. Kommen
Sie, ich nehme Sie beide mit und fahre Sie ins Dorf.”
Zimmermann
schaltete seinen Computer aus und zog seine Jacke über.
Wehmütig
blickte Otto zu seinem Ford hinüber, als sie an der Haltebucht
vorbeikamen.
“Ihr
Wagen, Otto? Vielleicht hätten Sie besser Ihren Bus genommen,”
lachte Zimmermann.
“Warum
waren die Leute heute morgen so erregt, als sie die Sternwarte
verließen?” fragte Anna.
“Ich
hörte Worte wie ‘Kosmisches Messageboard’ und
‘rückwärtslaufender Counter’.”
Zimmermann
schwieg eine Weile, dann schüttelte er den Kopf, als ob er sich aus
einer Trance befreien wollte.
“Wir
sind alle schrecklich aufgeregt. Die Programme unserer Sternwarte am
Donnerberg laufen in Zusammenarbeit mit Observatorien in aller Welt.
Zur Zeit sind wir auf der Suche nach Planeten, die um andere Sterne
kreisen. Sterne mit Planeten wackeln, wenn Planeten um sie
herumziehen. Man kann das anhand ihrer Spektralverschiebung erkennen.
Andere Sternwarten observieren Pulsare, also sich schnell drehende
Neutronensternen, die Impulse im Sekundenbereich aussenden.”
Zimmermann
hielt einen Augenblick inne. Dann fuhr er fort: “Nun glauben einige
von uns anhand von Computeranalysen herausgefunden zu haben, dass die
Strahlungen, die von den Sternen aus bestimmten Zonen kommen, Muster
aufweisen, die auf Signale hindeuten. - Kein Wunder, dass wir
aufgeregt sind. Das kann unsere Kosmologie über den Haufen werfen.”
“Donnerwetter.
Das hört sich ja wie Science Fiction an, Professor Zimmermann,”
meinte Otto erregt. “Werden Sie darüber in Ihrem Astronomiekurs
berichten?”
“Solange
die Messergebnisse nicht in einer der Wissenschaftszeitschriften wie
‘Nature’ oder ‘Science’ veröffentlicht worden sind,
natürlich nicht. Hier ist der Rote Ochse, meine Herrschaften. Ich
lade Sie hier ab, wenn es recht ist.”
Zimmermann
hielt seinen Wagen vor dem Gasthof an. Anna und Otto stiegen aus,
verabschiedeten sich von dem Professor und sahen sich schweigend an.
Dann lächelte Anna und hakte Otto unter.
“Komm
Otto, fahren wir zu mir nach Hause. Ich glaube, eine warme Dusche
wird uns gut tun.”