Schneider legte den Hörer auf die Gabel. “Udo, wir bekommen Damenbesuch.”
Udo packte sein Frühstücksbrot in die Schublade. “Hoffentlich bleibt sie nicht so lange. Wir haben schließlich zu arbeiten.”
Er änderte seine Meinung, als sie mit der jungen Frau ein wenig später in der Besucherecke saßen.
“Frau Gernot, schön, dass sie so kurz nach unserem Anruf hergefunden haben. Was können wir für Sie tun?” Schneider schenkte ihr Kaffee ein.
“Es muss schon etwas Schwerwiegendes sein, wenn Sie hier bei der Mordkommission erscheinen.”
“Es geht um meinen Mann. Er hatte vor ein paar Wochen einen tödlichen Reitunfall.” Sie lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Dunkle Haare und blaue Augen, eine unschlagbare Kombination. Schneider sah, wie Udo verträumt auf Frau Gernots Pullover starrte.
“So sagte man damals,” fügte sie hinzu, “doch ich wusste es besser.”
“Was meinen Sie damit?”
“Nach dem Unfall hatte ich in Astras Reitdecke einen Dorn gefunden. Den muss dort jemand hineingesteckt haben. Nur, ich habe ihn verloren, ich kann es nicht beweisen. Astra, das Pferd meines Mannes, hatte sich an dem Dorn verletzt und Reinhard abgeworfen.”
“Wieso kommen Sie erst jetzt damit zu uns?”
“Ich war mir nicht sicher, ob es noch Sinn hatte, wo mir doch das Beweismaterial abhanden gekommen war."
Udo versuchte ernst zu bleiben. “Meinen Sie, Frau Gernot, es wäre sinnvoller gewesen, wenn Sie mit einem Dorn in der Hand hier aufgetaucht wären?”
Verwirrt sah sie von einem zum anderen. “Können Sie denn gar nichts unternehmen?”
“Ich fürchte nein.” Schneider beugte sich vor und starrte sie an. “Sie haben keine Beweise für ein vorsätzliches Verbrechen und sind mit Ihrem Verdacht viel zu spät zu uns gekommen. Was sollen wir jetzt noch untersuchen?”
Zögernd erhob sie sich, strich ihren Rock glatt.
“Sagen Sie, Frau Gernot. Besaß Ihr Mann nicht das Gestüt und die Reitschule in Wohldorf?”
“Stimmt. Ich führe sie jetzt weiter.”
“Es tut mir leid, dass wir nicht mehr für Sie tun können.” Schneider verabschiedete sie und schloss die Tür hinter ihr.
“Was meinst du dazu, Udo?”
Der hatte sein Frühstücksbrot wieder aus der Schublade geholt. “Ich möchte wissen, wie alt der Mann war. Erinnert mich so ein bischen an den LSD-Fall, wo der alte Herr aus dem Zug gesprungen war. Nach dem Frühstück fahre ich ins Zeitungsarchiv und werde versuchen, etwas über den Unfall herauszubekommen. Übrigens, wann meldest du dich zur Reitstunde an?”
Schneider lachte. Udo wusste besser über ihn Bescheid, als er über sich selbst. Udo war Junggeselle, mochte Frauen, doch sein Schachclub war ihm wichtiger. Im Schach war er ein As. Vor allem, nach ihrem Besuch in Arkham war er nicht mehr zu schlagen. Vielleicht wusste er deshalb fast immer, was Schneider als nächstes unternehmen würde.
“Emma, ich werde heute abend Reitunterricht nehmen. Kommst du mit?” Schneiders Frau blickte verdutzt, als er sich neben sie auf die Couch setzte.
“Du hast sie wohl nicht alle. Bist ohnehin nie zu Hause und jetzt willst du auch noch zum Reitunterricht."
“Nun, deswegen habe ich doch gefragt, ob du mit willst. Das wäre doch etwas, was wir zusammen machen könnten.”
“Um Gotteswillen, Heinrich. Das ist doch viel zu gefährlich. Wie leicht kann man da runterfallen.”
“Na ja. Hast schon recht. Ich muss manchmal Risiken eingehen, die will ich dir nicht zumuten. Ich gehe einem Verdacht nach, und dazu muss ich mich ins Reitmilieu einschleusen, ergo, ich muss reiten können.”
“Wenn es dienstlich ist und Deinem Fortkommen dient, dann meinetwegen. Aber sei vorsichtig!”, rief sie hinter ihm her.
Schneider fand die Reitschule. Ein großes Schild an der Ohlstedter Straße deutete auf die Einfahrt. Er fuhr hinein, stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz ab, stieg aus und sah sich um. Zwischen hohen Fichten lugte ein Bungalow hervor, hinter dem sich ein Wald ausbreitete. Links vom Haus befand sich die Reitbahn, rechts davon die Stallungen.
Es wurde dunkel. Auf der Reitbahn war niemand zu sehen. Schneider ging zum Haus, sah eine Tür mit der Aufschrift ‘Büro’ und trat ein. Ein junger Mann saß hinter einem Schreibtisch und arbeitete am Computer. Schneider machte einen Termin für den kommenden Spätnachmittag aus und fuhr nach Hause.
“Heute kommst du ziemlich leger daher,” meinte Udo, als Schneider am Tag darauf im Büro auftauchte.
“Ausnahmsweise in Jeans. Muss gleich von hier zum Reitunterricht. Es wird früh dunkel.”
Frau Gernot sah Schneider, bevor er aus dem Wagen steigen konnte und lief zu ihm hinüber.
“Herr Kommissar,” strahlte sie, “was machen Sie denn hier?”
“Psst, Frau Gernot. Nennen Sie mich hier nicht Herr Kommissar. Nur Schneider. Ich habe einen Termin für eine Reitstunde.”
“Haben Sie das mit unserem Lehrer, Herrn Jürgens, vereinbart? Dem jungen Mann im Büro? Die Stunde übernehme ich. Haben Sie schon einmal auf einem Pferd gesessen?”
Schneider verneinte und Frau Gernot holte Brandy, ein Quarterhorse, aus dem Stall.
“Ein gutmütiger Wallach. Mit dem werden Sie keine Schwierigkeiten bekommen.”
Nach einigen Tagen konnte Schneider sein Pferd satteln, Zaumzeug anlegen, es geradeaus reiten und wenden, es sogar in einen leichten Trab fallen lassen - wenn das Pferd nichts dagegen hatte. Frau Gernot war zufrieden. Schneider ebenfalls. Es schien, als beruhigte ihre Nähe Pferd und Reiter.
“Also Emma. Morgen geht es auf den Trail.”
“Was meinst du damit? Ist das ein Lokal auf Sankt Pauli?”
“Das ist Englisch und bedeutet ausgetretener Weg oder Pfad. Ich werde mit einer Gruppe in den Wald reiten.”
“Dann sieh zu, dass du heil wieder zurückkommst.”
“Na, du kennst doch das Sprichwort: ‘So wie man in den Wald reitet, kommt man auch wieder raus.”
“Frau Gernot. Sie sehen hinreißend aus.”
“Danke, Herr Schneider.” Sie errötete leicht. “Gehen Sie bitte zu Brandy und satteln sie ihn. Wir treffen uns alle auf der Reitbahn.”
Schneider blickte ihr bewundernd hinterher. Ihre knappen Jeans, der enge Pullover machten sie zu einem Ereignis. Er nahm sich vor, gleich hinter ihr zu reiten. Als er sich umdrehte, bemerkte er Jürgens, der sein Pferd aus dem Stall führte und ihn nachdenklich anstarrte.
Schneider hatte Glück. Er war der zweite in der Gruppe, ritt hinter Frau Gernot. Der junge Reitlehrer bildete das Schlusslicht.
Die Pferde gingen im Schritt und ließen Schneider Muße, die Schönheit von Wald und Reiterin in sich aufzunehmen. Sie ritten im Western Style, führten die Pferde mit einer Hand am Zügel. Frau Gernots Pferd fiel in einen leichten Trab. Die anderen trotteten hinterdrein.
Frau Gernots Pferd durchquerte einen kleinen Bach. Brandy blieb mitten drin stehen und scharrte mit den Hufen im Wasser. Frau Gernot wandte sich um und rief: “Herr Schneider, geben Sie ihm einen Kick! Treten Sie ihn! Kommen Sie mit Brandy aus dem Wasser!”
Schneider trat Brandy in die Weichen. Der sprang mit einem gewaltigen Satz auf das gegenüberliegende Ufer.
“Das war knapp!” rief sie. “Brandy war kurz davor, sich im Wasser herumzuwälzen.” Sie wandte sich an alle: “Hört her. Wir machen jetzt einen kleinen Galopp.”
Schon legte sie sich nach vorn, gab ihrem Pferd einen Kick in die Seiten und raste los. Die anderen Pferde folgten ihr. Der Wind pfiff um Schneiders Ohren. Wieso war ihm so ängstlich zumute? Krampfhaft hielt er sich am Sattelhorn fest. Nach einer Weile fand er seinen Rhythmus und genoss die schnelle Gangart. Die Angst war verflogen. Vielmehr fand er es berauschend, mit Brandy über den Waldboden zu jagen. Er sah, wie die Amazone vor ihm über den Reitpfad flog, verspürte plötzlich den Wunsch, mit ihr allein zu sein.
Den Rückweg legten sie in gemäßigtem Tempo zurück. Auf dem Reitplatz angekommen, glitt Schneider ächzend von Brandy herab, führte ihn in seinen Stall zurück, löste Sattel und Zaumzeug und legte diese an ihren Platz. Das Gesäß schmerzte höllisch, die Erde hatte ihn wieder. Frau Gernot verabschiedete die anderen Teilnehmer der Gruppe und ging zu Schneider hinüber.
“Kommen Sie doch noch auf ein Bier herein.”
Er folgte ihr in die Wohnung.
Schneider setzte sich auf einen Sessel. Die Frau rückte mit einem Stuhl an ihn heran.
“Würden Sie mir die Stiefel ausziehen?”
Sie legte beide Beine auf seine Knie. Schneider zog ihre Stiefel ab. Erst einen, dann den anderen. Wie angefroren blieben sie sitzen, versenkten ihre Blicke ineinander. Ehe er dazu kam, seine Arme um ihre schmale Taille zu legen, und sie an sich zu ziehen, sprang sie vom Stuhl und verschwand in der Küche. Sie kehrte mit zwei Flaschen Holsten zurück, reichte ihm eine davon und setzte sich wieder hin.
“Ich bin die Gudrun und Sie?”
“Der Heinrich. Prost Gudrun.” Er nahm einen kräftigen Schluck.
“Gudrun, nehmen wir einmal an, sie hätten recht und es war kein Unfall. Haben Sie eine Ahnung, warum jemand Ihren Mann aus dem Wege räumen wollte? Hatte er Feinde?”
“Nein, er war ein umgänglicher Mensch.”
“War er viel älter als Sie?”
“Fünf Jahre.”
“War jemand eifersüchtig auf ihn?”
Sie zögerte einen Augenblick. “Ich glaube, der Jürgens hat sich in mich verschossen.”
“Trauen Sie ihm die Tat zu?”
“Ich weiß nicht. Er ist ein loyaler Mitarbeiter.”
Schneider drehte die Bierflasche in seinen Händen.
“Vielleicht sollten wir ihn auf die Probe stellen.”
“Wie meinen Sie das, Heinrich?”
“Wir sollten ihn eifersüchtig machen.”
Gudrun lächelte verlegen. “Wie haben Sie sich das vorgestellt?”
“Duzen wir uns erst einmal.”
Es klopfte an der Tür.
“Wer kann das sein?” flüsterte Schneider.
“Das ist der Jürgens.”
“Das ist der Moment, Gudrun.” Schneider zog ihren Stuhl näher zu sich heran, griff nach ihrer Taille und zog die Frau auf seinen Schoß. Er drehte ihr Gesicht zu sich herum und verschloss ihren Mund mit einem stürmischen Kuss. Sie stöhnte und schlang ihre Arme um seinen Hals. Das Blut pochte in seinen Ohren.
Es klopfte wieder an der Tür, dann öffnete sie sich.
Jürgens stand in der Tür. Ungläubig starrte er die beiden an.
“Ich… ich komme später wieder,” stotterte er, warf noch einen Blick auf Schneider und verschwand.
Gudrun richtete sich auf. Sie atmete heftig. Ihr Gesicht war gerötet, als sie ihre Bluse über der Brust zusammenzog. Sie sah auf den Boden.
“Es ist besser, du gehst, Heinrich. Fast wäre ich schwach geworden; doch finde ich, es ist einfach nicht recht, dass ich mich schon wieder an einen Mann verliere. Und womöglich bist du gar verheiratet.”
Schneider blickte sie resigniert an. “In Ordnung, Gudrun. Aber wir sollten uns weiterhin duzen und so tun, als seien wir ineinander verliebt. Warten wir ab, ob Jürgens etwas unternimmt.”
Schneider erhob sich, beugte sich zu Gudrun hinab und gab ihr, bevor er durch die Tür verschwand, einen Kuss auf die Wange.
“Vielen Dank für den schönen Abend.”
Als Schneider ein paar Tage später sein Pferd am Zügel aus dem Stall führte, hatten sich alle anderen schon auf der Reitbahn versammelt.
“Schön, dass du auch noch kommst, Heinrich. Dann können wir ja.” Gudrun lächelte ironisch. “Ach, noch etwas. Heinrich, Brandy reite ich heute. Du nimmst meinen Pinto.”
“Frau Gernot,” Jürgens drängte sein Pferd heran. “Der Pinto ist doch viel zu temperamentvoll . Den kann der Herr Schneider doch noch gar nicht reiten.”
“Vielleicht haben Sie Recht, Herr Jürgens. Dann machen wir es so: Sie tauschen mit Herrn Schneider.”
Schneider sah, wie Jürgens blass wurde, als er vom Pferd stieg und Schneider die Zügel übergab.
“Sind wir soweit?” rief Gudrun. Sie ließen ihre Pferde eine Zeit lang im Schritt gehen, im Trab laufen, und es dauerte nicht lange, dann rief Gudrun: “Fangen wir mit einem kleinen Galopp an,” und sie preschte los. Schneider und der Rest der Gruppe folgten ihr.
Alle waren damit beschäftigt, sich im Sattel zu halten. Erst als sie vom Galopp in Trab und Schritt zurückfielen, hörte Schneider jemanden rufen: “Herr Jürgens ist weg!”
Sie hielten an. Gudrun und Schneider ritten an das Ende der Gruppe, blickten auf Brandy, der am Wegesrand graste. Von Jürgens keine Spur.
“Wir reiten zurück,” rief Gudrun und setzte sich an die Spitze. Plötzlich hielt sie an.
“Heinrich, dort liegt er!” In etwa zehn Metern Entfernung lag Jürgens leblos auf dem Boden. Schneider stieg vom Pferd, beugte sich zu Jürgens hinab und versuchte dessen Puls zu fühlen.
“Er ist tot.”
Schneider übergab Gudrun die Zügel seines Pferdes. “Reite mit der Gruppe zurück und benachrichtige die Polizei. Ich bleibe mit Brandy bei dem Toten.”
Als die Gruppe sich entfernte, befestigte Schneider Brandys Zügel an einem Ast und nahm Sattel und Reitdecke vom Pferd. Er legte die Decke auf den Boden, bemerkte den Dorn, der in dem Stoff steckte.
Ein Fall für die Spurensicherung. Schneider setzte sich auf einen Baumstumpf und wartete.
“Was meinst du, Udo? Können wir den Fall guten Gewissens abschließen?”
“Sieht so aus, als sei Jürgens der Mörder gewesen. Damit hast du den Fall gelöst. Was ist aber, wenn die Gudrun es war und nur den Verdacht von sich ablenken wollte?”
Schneider winkte ab. “Kann nicht sein, Udo. Als Täter wäre sie doch gar nicht zu uns gekommen. Ausserdem war sie es, die Brandy anfangs reiten wollte. Ich glaube wir können den Fall begraben.”
Wochen vergingen. Schneider hatte nichts mehr von Gudrun gehört. Ein paar Tage später sah er ein Bild von ihr in der Zeitung, mit ihrem neuen Ehemann, und er kratzte sich am Ohr.

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